Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Nichts im Etwas

2. Hypnagogik

Traumphasen

Der Sinn des REM liegt im Ablauf, nicht in der Deutung; das mentale Gleichgewicht soll wieder hergestellt werden, um der Wirklichkeit gewachsen zu sein. Alle erklärenden Traumbücher sind Unsinn. Werde ich während einer der REM-Perioden unsanft geweckt, so mag mein Gemüt den ganzen Tag missgestimmt sein; es sei denn, ich erledige es in einem Gespräch mit einem Freund.

Die fünf Perioden bleiben proportional gleich, werden auf die Schlaflänge aufgeteilt. Normal wäre eine Schlafeinheit von 90 Minuten, bei kürzerer vorher bewusster Schlafdauer beschleunigt das Tiefensubjekt die Abläufe. Somit bedeutet das Mysterium des Asklepios eine Bewusstmachung des Schlafes im Wachen und damit die Rückbindung an die Erde.

Der voll erwachte Mensch hat alle Bewusstseinsschichten. Ihre Struktur lässt sich auch am Großhirn erkennen, wobei wir das Pribram’sche Modell zusammen mit dem Young’schen verwenden wollen.

P r i b r a m s c h e · M o d e l l

Die linke Hemisphäre ist analytisch, Zeit ist wirklich, der Mensch lebt in der Gegenwart, Vergangenheit ist nicht mehr, Zukunft ist noch nicht, und das Jetzt wird als Glied in einer Kette verstanden, die aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht. Ihr Schwerpunkt ist die Betastufe, die Verarbeitung der Daten der Außenwelt zur Vorstellung des Geistes.

Das Denken assoziiert die Sinnesdaten über die Sprache zum Zweck des Überlebens, der Strategien. Es bildet das Ich, eine bestimmte Art und Weise, mit welcher der Mensch der Wirklichkeit gegenübertritt. Denken ist werkzeughaft; das Urbild des Werkzeugs, der Hammer Thor’s, bedeutet den Einsatz von Gedanken, um der äußeren Lage Herr zu werden.

Die hintere Region des Denkens umfasst auch die Seele, die in die rechte Hemisphäre übergeht. Sprache macht Bilder zu Zeichen und Lauten, oder erzeugt aus Lauten und Zeichen Bilder, die einen Ablauf konstituieren, der erinnert und wieder hervorgerufen werden kann, automatisch im Sinne des bedingten Reflexes oder absichtlich. Doch die zweite Tätigkeit dieses Bereichs, die Ebene der Seele, ist der REM-Traum, die Anordnung der Gedanken um eine Mitte, die Integration. Tatsächlich entsteht die Arbeit der fünf Traumstufen aus der Notwendigkeit, die Ichmitte immer wieder zu finden.

Doch dieses Ich wird in seinem Überleben aus den Bedürfnissen des Fühlens der vier Triebe — Nahrung, Sicherung, Reproduktion mit Imponiergehabe und Aggression mit hierarchischem Trieb und Territorialinstinkt — den sogenannten inneren Signalen, bestimmt. Diese gehen als Raumvision, als Fähigkeit der Veranschaulichung vom jeweiligen Gleichgewichtszustand aus. Hierzu kommt die Tendenz des Körpers zur dauernden Entfaltung, da dieser ununterbrochen nach dem gleichen Genom Zellen produziert, die immer neue Gestaltungen verlangen. Jeder Körper sehnt sich nach Allbeziehung, nach voller Kommunion. Zu dieser prospektiven Tendenz, die sich im Visionstraum äußert, gehören biologisch die offenen Programme, deren Erfüllung die Hilfe von Umständen und anderer Wesen bedarf. So entspricht die rechte Hemisphäre der dritten Stufe des Mysteriums.

Die vordere Region des Großhirns vereint wiederum links und rechts.

  • Auf der rechten Seite ist das eigentliche Subjekt, das Gewahrwerden, reines inneres Licht, die Aufmerksamkeit als inhaltsloses Sein, als Leere.
  • In der linken Hemisphäre wird das Wollen zur Wahl, zum Entscheiden und Entschließen. Hier vereinen sich männlich und weiblich, Yang und Yin im wechselnden Rhythmus der Deltawellen: die Wahl eins wird zwei, Identität, oder drei, Verschiedenheit.
  • Die linke Hemisphäre, empfinden, Geist, Denken und Wollen, erfährt objektiv. Auch die Wahl kann sich nur auf Gegebenes richten, auf die Fülle der Gottheit, deren Dasein sich zuerst in Zeichen und Wundern offenbart; im Erleben einer Hilfe, von der man weiß, dass sie nicht aus den eigenen Strategien herrührt.
  • Die rechte Hemisphäre, Fühlen, Körper, Seele und Gewahrwerden als Teilhabe am inneren Licht der Aufmerksamkeit und der Welt nach dem Tod, ist projektiv: sie ergänzt das Gewusste und Erfahrene immer analog bildhaft auf die Ganzheit. Es gibt niemanden, der nicht irgendeine Ganzheit vertrete. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Ganzheit von bloßer Meinung in klare Einsicht zu überführen.

Arthur Ford berichtet in seiner Schilderung der Geschichte der Parapsychologie und der okkulten Überlieferungen, dass der Mensch nach dem Tod die vier Stufen durchlaufe, während die fünfte ihm als inneres Licht gegenübersteht und er ihr gewachsen sein muss, um daran vorbei zum Paradies zu gelangen. Ich habe ähnliche Erfahrungen mit Rückführungen erlebt, glaube aber mit Gurdjieff, dass das Licht des Todesreiches nicht die Sonne sondern der Mond ist; niemals begegnete mir die Erfahrung vermengender Hitze. Das Licht war höchstens angenehm warm, nicht fordernd wie die Sonne, sondern freundlich gewährend. Arthur Ford beschreibt folgende mögliche Modalitäten nach dem Tod:

  1. Wer nur in der Sphäre des Empfindens war, für den Alltag lebte und sich ohne Denken mit den Dingen auseinandersetzte, um nicht in ihnen unterzugehen, bei wem also das bloße Überleben das einzige Ziel war, bleibt als Geist auf der Erde und kehrt baldmöglichst wieder in einen Körper zurück.
  2. Wer bereits denken musste, etwa ein kleines Geschäft führte, bleibt nach dem Tode in der Sphäre des unglücklichen Bewusstseins, des Fegefeuers. Das Chaos der Gedanken, das sonst die REM-Träume der Seele in Ordnung bringen, legt dem Menschen nahe zu versuchen, die Lebenden zu beeinflussen, damit sie sein unvollendetes Geschäft vollenden. Viele wissen nicht, dass sie tot sind, ebenso wie viele im Traum nicht wissen, dass sie nicht wach sind. Was man gemeinhin als böse Geister betrachtet, ist meistens nichts anderes als die Sphäre dieser Toten, die man durch einen geeigneten Ritus zur Umkehr bringen kann. Bei den brasilianische Spiritualisten, bei denen die Hilfe für die Verstorbenen das Hauptanliegen ist, ist es der Satz Drehe dich zum Licht, oder drehe dich um. Ein entsprechender Ritus findet sich in fast allen Überlieferungen.
  3. Die nächste Sphäre ist jene des Fühlens und des Körpers, der seinem Genom innewohnenden Möglichkeiten. Hier werden Wünsche traumhaft erfüllt. Das Wesen wird zum eigenen Theaterdirektor, gaukelt sich Paradiese vor, die aus unerfüllten Wünschen herrühren. Doch da er nicht nur positive Sehnsüchte hat, sondern auch Vorstellungen von Grausamkeit und Foltern, führen ihn letztere wieder zur Erde zurück, ebenso wie die Tätigkeit der Assoziationen im Fegefeuer endlich ist.
  4. Die vierte Stufe des Tiefschlafes und der geschlechtlichen Vereinigung ist die Ebene der schöpferischen Bilder, aus welchen auch der eigene Lebenssinn herrührt. Ford nennt sie Eidos, die stoische Philosophie hieß sie rationes seminales, keimhafte Urgründe von Welt und Bewusstsein. Wer diese Sphäre und damit die Fähigkeit der Metamorphose, des Annehmens verschiedener Gestalten erreicht, hat bereits im Leben die Reinkarnation überwunden und ist Teil des Paradieses, wenn dieses auch durch einen Schleier für das meditative Bewusstsein verhüllt bleibt und nur in der Spiegelung der Visionen der dritten Sphäre analog erlebt wird. Daher waren alle Paradiesvisionen unsagbar, nur in Farbe und Musik auszudrücken, der Welt jener beiden Schwingungen, die den Körper mit dem All verbinden.

Alle vier Bereiche, im Paradiesmythos die Tore zum Baum des Lebens, müssen integriert sein, auf dass der Mensch in seine Mitte die fünfte Sphäre komme und damit die senkrechte Brücke zwischen dem Schlangengott der Erde und der Fülle des Himmels bildet. Daher kann der Einzelne nur in einer Welt gedeihen, die als Kultur Elemente aller vier Bereiche eingliedert und auf den fünften eicht. Dies war die Intention der griechischen Philosophie, die unsere gesellschaftliche Welt erschaffen hat und deren letzter Ausdruck die technische Zivilisation ist.

Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas · 1984
Mystik der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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