Schule des Rades
Arnold und Wilhelmine Keyserling
Das Nichts im Etwas
Schule des Rades
Vorwort
Ich habe in meinem Leben einige Male Zustände erlebt, da ich vollständig glücklich war; in einer intensiven Freude, die ich auch anderen vermitteln konnte. Diese Zustände hatten für mich nicht den Stempel des Außergewöhnlichen, sondern der Heimkehr. Sie entstanden zu verschiedenen Anlässen, doch waren sie alle einander ähnlich. Dies Erleben hat mich staunen lassen, warum es anderen Menschen nicht so geht und warum sie diese Erfahrung als außergewöhnlichen Zustand, als charismatische Begnadung betrachten; und dies nicht nur in der bürgerlichen Mentalität, sondern auch bei den Hochreligionen.
Zwar heißt es etwa im Yogasutra, dass der Samadhi jedem zugänglich sei und dass das Kompendium der Yogamethoden dazu diene, ihn bleibend zu machen; dass ferner das Wesen des Menschen in seinem Kern Sat-Chit-Ananda, Gewahrsein der Wahrheit in Freude ist und das Leiden des entfremdeten Bewusstseins eine Illusion sei.
Ich habe viele Menschen getroffen, die ähnliche Erfahrungen hatten. Manchmal leiteten sie den Ansatz eines Werkes daraus, das sie dann weiterhin trug. Aber immer wieder habe ich das Misstrauen der anderen erlebt, die entweder jene Menschen für Ausnahmewesen halten und sie verehrend entwirklichen, oder sie glattwegs der Lüge zeihen. Aber je älter ich werde, desto sicherer wird für mich, dass die mystische Erfahrung den Durchbruch zum wahren Bewusstsein bedeutet, der auf viele Weisen erreicht werden kann; manchmal durch Krisen, manchmal durch einen anderen Menschen, und manchmal einfach so.
Eine Schilderung persönlichen Erlebens finde ich nur dann einleuchtend, wenn sie eine überpersönliche Form gefunden hat wie bei den Predigten Meister Eckhart. Ich glaube, dass sie nur dann beständig wird, wenn sich eine Hingabe und ein Einsatz für das Wohl anderer aus dem Erleben ergibt. Vielleicht besteht eine Ähnlichkeit zwischen dem Glücksgefühl solcher Momente und mancher Drogenerfahrung. Der Unterschied ist, dass man bei den Drogen höchstens eine Öffnung durch Ausschaltung des rationalen Ichs erlebt, es einem aber nicht gelingt, aus diesem Erleben heraus zu handeln; meiner Auffassung nach deswegen, weil man den Zustand nicht einer Zuwendung zur Transzendenz, sondern einer Neugier oder einem Zufall verdankt. Doch das Positive solcher Erfahrung ist zu erkennen, dass unser gewöhnliches Alltagsbewusstsein nicht das einzige ist und dass es tiefere Schichten gibt, die mit geeigneten Methoden erreicht und eröffnet werden können.
Bei griechischen Worten gibt es viele Deutungen. Ich ziehe in der Interpretation des Begriffes Mystik jene vor, dass es die Erfahrung bei geschlossenen Augen sei. Viele Menschen erleben einfach nichts oder Schlaf, wenn sie die Augen geschlossen haben. Doch wenn die Schwelle überschritten ist und der Traum dem wachen Bewusstsein zugänglich wird, beginnt ein unendlicher Weg, womit für mich überhaupt der Sinn des Lebens anhebt.
Trotz aller Hochachtung vor religiösen Überlieferungen scheint mir das Bekenntnis oder die Nachfolge eines Heiligen fragwürdig. Er ist nicht ich, und auch die spezielle Fassung einer Methode ist aus Zeit, Raum und Persönlichkeit zu erklären und kann für mich nicht der Zugang zu jenem Nichts sein, aus dem das Etwas meines eigenen Sinnes und meiner Richtung erfließt. Auch die Formulierung, man müsse sich zuerst einem erleuchteten Meister hingeben und sein Ich verlieren, um es dann später wiederzufinden, erscheint mir gefährlich: wer sagt, dass man sich wiederfindet und nicht nur eine ganz gewöhnliche Vater- oder Mutterübertragung vornimmt, also einen hysterischen Zustand verewigt?
Die mystische Erfahrung des Satori im Zen erreicht die Sprengung des rationalen Ich über die Methode des Sitzens, des bewussten Atems und der Meditation paradoxer Bilder, wie etwa des Tones einer Hand beim Zusammenklatschen der beiden. Wenn man auf irrationalem Weg die Erleuchtung erlangt, so bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als selbst Lehrer des Gleichen zu werden. Dann spricht man davon, der Sinn des Daseins sei eben diese Erleuchtung zu finden und es gäbe eine Reihe von Meistern, die sie immer weiter tragen; eine Elite innerhalb der Menschheit, die goldene Kette der alten Seelen, an die man sich anschließen müsse und in deren Rahmen es gelte, möglichst viele andere zu erwecken.
Für mich ist eine solche Elite nicht wesensverschieden von einer Vereinigung von Kaninchenzüchtern, oder besser gesagt, von Mitwirkenden in einem Theaterstück mit dem Unterschied, dass die Schauspieler nach der Aufführung als ihre eigene Person nach Hause gehen, aber die Sektenmitglieder ihr ganzes Dasein in dem einen Theaterstück hypnotisch gefangen bleiben. Ich glaube auch nicht an eine langsame Evolution im Karma gleich einer transzendentalen Militärkarriere, wo erst der Generaloberst das Heil erreicht, sondern ich denke mit Kierkegaard, dass jeder potentiell erlöst ist, sobald er einen Schleier durchstößt, der ihn von seinem innersten Ursprung trennt.
Wenn aber die Befreiung normal ist, dann wird die Nachfolge weniger wichtig als der eigene Durchbruch, und dieser müsste kritisch zu bestimmen sein.
Für mich ist der Heilige als der wohlwollende und helfende Mensch die Norm. Erst jener, der für andere lebt, lässt sich in seiner Eingliederung in die kosmische Menschheit dem Tier gleichstellen, das äußerlich und innerlich seine Funktion in der Evolution verwirklicht. Alle Hierarchien im Tierreich sind funktionell, auf die Gruppe gerichtet. Seinshierarchien halte ich für falsch. Der Mensch ist das liebende, zugewandte Tier, welches aber über seine Fähigkeit der Empathie hinaus eine lebendige Brücke zum Jenseits bildet, zur Welt des Traumes und Schlafes und der Transzendenz, die fast jedem irgendeinmal in einem mystischen Erlebnis zugänglich wurde und Quell aller Freude ist.
Zufolge der Tradition des Yoga gibt es im Bereich des Samadhi inhaltslose Verzückung, dem Orgasmus vergleichbar, aber auch die ruhige gleichmütige Freude, die das Alltagsbewusstsein vertieft, wie in jenem Zen-Gleichnis von dem Ochsen des Pilgers, der zwischendurch die seltsamsten Formen annimmt, auch mal verschwindet, aber zum Schluss wieder ein ganz normaler Ochse ist. Ich folge Martin Buber, wenn er kündet, dass der Alltag durchscheinend werden müsse für das Transzendente. So sehr auch Liturgien einen Wert haben mögen: solange in einem das profane Leben im entfremdeten Bewusstsein verharrt, lebt der Mensch gleichsam auf Vorschuss und schiebt den entscheidenden Schritt zur Befreiung immer weiter hinaus.
Dieser Schritt ist heute, ja gestern zu vollziehen, wenn man den Gliederbau der Psyche kennt, die Kriterien der mystischen Erfahrung weiß und die Methoden anwendet, mittels derer man sie erreicht. Ein solches Kompendium der Elemente und Methoden zu entwerfen, ist das Ziel unseres Buches. Daher will ich auch nicht meine eigenen Erlebnisse beschreiben — auch ein Romanschriftsteller muss diese auf eine überpersönliche Ebene erheben, damit er glaubwürdig werde — sondern aus dem Schatz der mystischen Überlieferungen jene Kriterien freilegen, die mir sowohl einsichtig erscheinen als auch leicht nachzuvollziehen sind.
Diese Einstellung zur mystischen Erfahrung ist in den letzten zwei Jahrzehnten durch die humanistische und transpersonale Psychologie nahegelegt worden, deren Vertretern ich sehr viel verdanke; in der Gruppenerfahrung gelingt es Schritte zu machen, zu denen man allein keinen Mut hätte. Doch verstehen sich ihre Vertreter oft als Therapeuten, als Helfer in der Not. Ich glaube dagegen, dass der entscheidende Durchbruch nicht kausal, sondern frei jenseits aller Not zu vollziehen ist: als Einstieg und Heimkehr zur menschlichen Norm, die jedem als selbstverständlich einleuchtet, der sie einmal erlebt hat.