Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Nichts im Etwas

3. Philosophie

1. Geist - empfinden: Wachen

Die Griechen unterschieden sich von anderen Völkern durch ihre Hochschätzung der Kunst, der Techne, die sowohl künstlerischen Ausdruck als auch technische und handwerkliche Vollendung umfasst. Auf dieser Ebene ist der agonale Geist, der Wettbewerb berechtigt. Jeder hat die Sehnsucht, in dem, was er macht, der Beste zu sein.

So erklärt Sokrates, die Verfassung der Athener sei aristokratisch: nicht im Sinne der Kasten wie später im platonischen Denken, sondern darin, dass jeder ein Bester in irgendetwas wird. Niemand wird darauf kommen, eine Arbeit jemandem anzuvertrauen, der sie nicht kann. Die Heilkunst obliegt dem Arzt, der Ackerbau dem Landwirt, der Handel dem Kaufmann, und hier ist es lustig für jeden, besser zu sein als der andere, sich mit ihm zu messen, sowohl körperlich als auch in anderen Begabungen wie im Gesang, der Dichtkunst oder der Redekunst. So wäre die wahre Demokratie Aristokratie als Lebensform der Besten, nicht aber als Herrschaft über andere, weil keine der Techniken imstande ist, den Sinn des menschlichen Lebens in ihre Kunst einzuschließen.

Um den freien Wettkampf zu gewährleisten, so dass jeder sein Bestes leisten kann und die Möglichkeit hat, seine Anlage zur Vollendung zu bringen, ist ein Reichtum an Sitten und Gesetzen notwendig, der vielfältige Lebensweisen ermöglicht und die Herrschaft des Einen über den Anderen ausschließt. Keine Verfassung kann ideal sein, doch die athenische ist reicher als die anderer Städte.

Dieser Reichtum ermöglichte Sokrates, seine Gespräche über jedwede Thematik frei zu führen. Darum erkannte er die Gesetze der Stadt als Geist, als Zusammenhang aller Vorstellungen, die das gemeinschaftliche Leben prägen, an. Als Kriton ihm anbot zu fliehen, lehnte er es ab; nicht aus Bürgertugend, wie es Kommentatoren behaupten, sondern aus zwei Gründen: einerseits, weil der Mensch in irgendeiner Gemeinschaft lebt und es lange dauert, bis er sich in dieser zurecht gefunden hat, was in Athen für ihn der Fall war, und er als Gast sein Anliegen nie in gleicher Weise durchführen könnte. In Megara wohin er fliehen sollte, wäre er immer ein Ausländer ohne Wirkungsmöglichkeit (wie heute Solschenizyn in Kanada). Anderseits deswegen, weil der Tod kein Übel ist sondern das Tor zu unbekannten Abenteuern.

Des weiteren müsse man die menschliche Geschichte nicht als göttliches Fatum betrachten, wie es andere Völker getan hatten, die ein vorgegebenes Schicksal zu erfüllen trachteten wie die Kalenderkulturen oder Israel, sondern als Vorbild aller Leistungen, die Menschen je geschaffen haben: das Beispiel jener, die ihre Arete, die Tugend erreicht hatten. Tugend bedeutet Vollendung der Anlage, was immer diese sei. Der heroische Weg setzt im Unterschied zum traditionellen am eigenen Mythos oder Wahn an. Apollo als Herr der Traumvision ist gleichzeitig Inspirator der Klarheit. So lässt Sokrates, der mehr der Dialektik als der erhebenden Poesie fähig ist, eine Grabrede der Aspasia seine Vision der Geschichte zeigen: als lebendiger Zusammenhang allen höchsten Lebensausdrucks, den trotz mangelnder Vollendung Männer wie Solon, Miltiades, Themistokles, Perikles und andere vorgelebt haben.

Erziehung sollte darauf gerichtet sein, diese Vollendung im Sinnbild zu erkennen und ihr nachzustreben. Keine Erziehung darf auf eine einzige Kunst gerichtet sein, da sie den Menschen nie ganz bilden kann. Tugend ist nicht statisch zu bestimmen als Teil eines Handwerks, auch nicht des Redens, sondern nur als Gesamtanstrengung um Gerechtigkeit, die nie endgültig verkörpert werden kann.

In der aristokratischen Demokratie, wo jeder seine Kunst ausübt — irgendeine muss er haben, um sein Leben zu verdienen — fühlt sich aber jeder Bürger berechtigt, in Staatsdingen mitzureden, weil eben dieses Wissen nicht lehrbar ist. Damit kommen wir in die zweite Stufe des Mysteriums, denken und Seele, hypnagogisch Ort des Tagtraums und Nachttraums REM, wo sich die dialektische Tätigkeit vollzieht.

Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas · 1984
Mystik der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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