Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas
3. Philosophie
4. Wollen: Tiefschlaf - Sexualität
Der Schritt vom Mythos zum Logos führte zur Festigung des Ichs, das aber in Gefahr ist, aus den Trieben heraus so zu wuchern, dass es Gerechtigkeit und Besonnenheit vergisst. Der Eros ist stärker als der Logos und die Triebe. Der Mensch, der einen anderen liebt, wird dadurch verklärt und sieht jenen so, wie er als Wesen sein könnte. Er ist bereit, alles für den anderen zu opfern, sobald er seine eigene Motivation erreicht hat.
Im Ritual des Asklepios bedeutet die Körper-fühlen-Stufe Meditation, das Verweilen im Fasten als Nichtidentifikation mit den Trieben, bis dass von innen her der Zugang zur Lebenskraft und damit zum Eros erreicht ist. Auf der Ebene des Wollens sind die beiden Helfer, der weibliche und männliche Gott, Isis und Osiris, dem Horus als Urbild des Menschen entspringt; der Mond und die Sonne, deren Zusammenhang Tag und Nacht vereint und uns damit ermöglicht, dem Tod und dem Göttlichen zu begegnen.
Was ist nun der Eros, jene Kraft, die als einzige den Menschen dem Zwang der Anangke, der Gnadenlosigkeit der Triebe enthebt? Pflanzen wuchern, so weit sie können, und Tiere leben in der Ordnung des Fressens und Gefressenwerdens; beide Seinsformen gelten dem Menschen in der Wiedererinnerung als höllisch. Im Eros sucht man nach Vereinigung mit anderen Körpern, will darin zeugen, aber darüber hinaus in der Seele und im Geist. Man will dem anderen wohl, verliert den Sinn für das eigene scheinbar vernünftige Maß, sobald man vom Pfeil des Gottes getroffen wird.
Solange die beiden Sphären des Traums und des Tiefschlafs, des Fühlens und des Wollens im Eros vermischt sind, reißen einen auch die Liebessehnsüchte ins Verderben. In dieser Problematik erkennt Sokrates die menschliche Bestimmung: dieser strebt nicht nach Befriedigung, sondern ist immer auf dem Weg.
In der Schilderung des Gastmahls geht Sokrates zu Diotima, der Seherin, um sich von ihr über das Wesen des Eros belehren zu lassen. Liebe ist nicht unsterblich, weil sie manchmal versiegt, sie ist aber auch nicht sterblich, weil sie immer wieder auftaucht. Daher ist der Mensch weder Tier noch Gott, sondern dazwischen: ein Daimonion, ein Wesen, das immer auf dem Weg ist. Sein Ursprung lässt sich aus einem Mythos begreifen: Die Göttin der Armut kam bei einem Gelage im Olymp vorbei, wo der Gott des Reichtums im Garten betrunken schlief. Sie gesellte sich ihm zu und gebar dann den Eros, der das Erbe beider Eltern in sich trägt; einerseits die Fülle und Freude, wenn die Vereinigung stattfindet, andererseits die Sehnsucht danach und damit die Armut.
Götter haben keine Sehnsucht, weil sie alles besitzen, bedürfen aber der Opfer der Menschen, um glücklich zu sein und wirken zu können. Durchschnittsmenschen beschränken sich in ihrer Welt und haben Angst vor Neuem.
Doch Triebe heischen nach Erfüllung, die über die Ichbegrenzung hinausgeht und das Wagnis erfordert. Die meisten wissen das nicht; sie glauben, sie handelten frei. In Wirklichkeit sind sie in ihren Dramen Spielball der Götter, mal diesem mal einem anderen zuneigend. Triebe sind Personal als göttlich zu verstehen, da sie den Menschen als Wesen bezwingen können: er wird ganz Eifersucht, ganz Habsucht, ganz gekränkte Eitelkeit. Wäre keine Personhaftigkeit dahinter, nie könnte man als Ich den Trieben verfallen. Aber diese göttlichen Traumichs sind nicht der Ursprung, sondern Gestaltungen der ursprünglichen Gottheit, die sich in der Zweiheit des Nichts und des Etwas, der Leere und der Fülle entfalten.
Es war die Gefahr des griechischen Menschen, sich für weise zu halten: Sophist heißt Weisheitslehrer, nicht Wissenschaftler. Wer sich im Besitz der Wahrheit und des Wissens glaubt, ist damit einem unbekannten Motiv verfallen. Nur wer immer wieder zum Nichtwissen zurückstrebt, ist ein Mensch zwischen Tier und Gott, Erde und Himmel; er hat sein Daimonion gefunden. Im Streben nach Weisheit wird er nicht Sophist sondern Philosoph, der die Weisheit liebende und integrierende Mensch, der ewig auf dem Weg bleibt und nie, solange er lebt, am Ziel sein kann — und auch später nicht.
Solch ein Mensch ist für die anderen ein Poet, was auf griechisch Macher bedeutet. Da die Poesie das klarste Beispiel der Inspiration ist, hat man dieses Wort auf die Verseschmiede beschränkt. Doch jegliche Kunst oder Technik — beide Begriffe sind synonym — ist Ausdrucksmittel der innersten Strebenskraft des Menschen, die gleich dem göttlichen Ursprung sowohl Fülle als auch Leere in sich trägt. An diese Eros, diese Begeisterung kommt der Philosoph heran, der nicht im Bild, Ritus, oder Anpassung an eine Tradition, sondern im Gehen des geistigen Weges seinen Sinn findet.
Vor seinem Tode bittet Sokrates seine Freunde, ihm alles zu berichten, was man wohl über das Jenseits weiß, denn wenn man eine Reise macht, geht man auch zuerst in ein Reisebüro, um sich zu erkundigen, wie es dort wohl aussehen mag. Dass die Seele nicht mit dem Körper stirbt, ist wohl einzusehen, da ja beim Tode etwas weggeht; und so war es Sokrates auch gleichgültig, was seine Freunde mit seinem Leichnam machen würden, da er ja nicht mehr drinnen ist, und er nahm den Todestrank ohne jegliche Angst. Ob aber wirklich die Schilderungen des Jenseits der Wahrheit entsprechen, darüber mag man mit Fug und Recht zweifeln. Aber irgendeine andere Welt muss es geben. Daher gilt es guten Mutes zu sein — wer auf der Erde zum Wissen vom Weg durchgestoßen ist, dem wird dieser Impetus wohl auch im Jenseits erhalten bleiben.