Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas
4. Das Rad
Kesar Ling
Im Sommer 1961 weilten wir in Kalimpong, auf Urlaub von Kalkutta. Der Ort war voll von tibetanischen Flüchtlingen, die meistens bettelten, um zu überleben. Plötzlich begrüßte uns ein älterer Herr in der Straße mit einem langen Lapislazuli-Ohrring. Zuerst dachten wir, er sei auch ein Bettler, er wollte aber nichts von uns und ging seines Weges.
Am nächsten Tag erzählte uns die Hotelwirtin, heute komme ein Mann zu ihr, der seine Hilfsration von der UNRRA gesondert erhalte, da er ein König sei, der den gleichen Namen habe wie ich; Keyserling wird auf englisch Keserling ausgesprochen und tatsächlich hieß unsere Familie im 13. Jahrhundert so.
Am Nachmittag kam er, und es war der gleiche Mann, der uns gegrüßt hatte. Wir fragten ihn über zwei Dolmetscher — er sprach nur Khampa, nicht tibetanisch — warum er uns gegrüßt habe. Er sagte, er habe gedacht, gleiche Knochen aber verschiedenes Fleisch — was dort bedeutet, dass er in mir einen Verwandten entdeckt zu haben glaubte. Er erzählte weiter, dass der Familienüberlieferung nach ein Teil seiner Sippe während der Völkerwanderungen bis nach Deutschland gekommen sei, worüber er aber keine genaue Vorstellung habe.
Er bezeichnete sich als einen Nachkommen des tibetanischen Kulturheroen Kesar Ling, dessen Epos in allen mongolischen Ländern die gleiche Rolle spielt, wie das Nibelungenlied oder die Artussage in Europa.
Ich hatte nie davon gehört und besorgte mir eine Schilderung dieses Epos von Alexandra David-Neel, die den Versuch einer Nachdichtung gemacht und auch den Vater unseres Königs besucht hatte. Das Epos war inzwischen buddhistisch verwandelt und interpretiert, auch der König von Ling war Buddhist.
Das Epos beginnt damit, dass Kesar einen Schatz in einem Berg findet, zu dessen Entdeckung und Verwendung er eigens inkarniert wurde: das Rad. Mittels dessen Wissen verwandelte er Tibet in ein großes Reich, besiegte alle Feinde, die Könige der vier Himmelsrichtungen, eigenhändig, indem er magisch seinen Körper vervielfachte, und brachte dann durch Meditation alle getöteten Feinde zum Paradies.
All das wusste ich noch nicht bei unserem Treffen. Der König erzählte, Kesar sei nun im Westen wiedergeboren und offensichtlich sei es meine Aufgabe, sein Werk zu vollenden. Ich hatte die Vision des Rades mit einundzwanzig Jahren, am Tag, als die Sonne auf meinem Aszendenten stand. Das Horoskop dieses Augenblicks ist im Buch Anlage als Weg
beschrieben.
Diese Vision gab mir ein unglaubliches Vertrauen, ich war damals Soldat und fühlte mich mit einem Schlag vollständig sicher. Ich trat in die Mitte einer sich drehenden Scheibe und hatte damit ein anderes Wesen in mir gefunden. Durch Jahre versuchte ich, die Vision zu entschlüsseln. C. G. Jung hatte sie als Erlebnis einer Individuation beschrieben, aber Psychotherapie war für mich kein Anliegen, sondern die philosophische Suche nach dem Sinn.
Erst vierzig Jahre später gelang es mir, die Struktur des Rades zu vollenden. In ihrer Vollständigkeit zeigt sie genau die gleichen Elemente wie das von Kesar entdeckte tibetanische Rad, das jeder Tibeter heute noch an seinem Gürtel trägt: der Tierkreis, die acht Urzeichen des I Ging und die neun Ziffern. Doch dieses Rad, das heute noch jeder Tibetaner kennt, ist ein Mandala, ein Meditationsobjekt und eine Orientierungshilfe, aber keine systematische Struktur.
Mir war es aber um letztere zu tun, und durch unsere beiden Lehrer, Josef Matthias Hauer für die Musik und Georg I.Gurdjieff für die Sprache und Philosophie gelang es mir die Urstruktur zu entschlüsseln: sie bedeutet die Wissensgrundlage der Art und Weise, wie der Mensch die Rückbindung an das gesamte All wiederfindet.
Das Buch von David-Neel hatte ich längst verloren. Da fand es im Dezember 1983 ein Schüler meiner Frau in Neapel in einem Park und am selben Tag kaufte ich in Paris das letzte Werk des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade über die Geschichte der Glaubensformen, dessen dritter Band mit einer Beschreibung der tibetanischen Urreligion endet. Vor Bön und Buddhismus hieß sie die Religion des Menschen
, und das Wissen des Rades stammt aus dieser Periode aus megalithischer Zeit. Eliade schreibt, dass die Entzifferung des Kesar-Epos bevorstehe und wahrscheinlich einen klaren Aufschluss der Urreligion geben werde.
Das Einzigartige am Rad des Kesar Ling ist die Tatsache, dass die Kategorien von Zeit, Raum und Zahl wahrscheinlich vor Pythagoras als Elemente der Kombination von Bewusstsein und Welt betrachtet wurden.
Außen im Rad ist der chinesische Zodiak mit seinen zwölf Tieren: Ratte, Büffel, Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Ziege, Affe, Hahn, Hund und Schwein.
Nach innen schließen die acht Urzeichen der Himmelsrichtungen und des Buchs der Wandlungen an, im heutigen Tibet in der Ordnung des König Wen.
Die Mitte bildet das magische Quadrat der neun Ziffern, worin jede Verbindung dreier Zahlen 15 ergibt.