Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas
Einführung
Noosphäre
Die Einheit von Thron und Altar, die falsche Weihe für das unglückliche Bewusstsein ist heute fast auf der ganzen Erde zerbrochen. Die politisch mächtigen westlichen und östlichen Ideologien, die Loyalität erheischen kennen nur den bürgerlichen Menschen ohne Rückbindung. Damit ist das erste Mal in der Geschichte möglich geworden, die mystische Erfahrung zu dem zurückzuführen, was sie immer war: der Durchbruch zur zweiten Geburt, womit ein Mensch bereits auf Erden Zugang zum Paradies, zum Leben als Freund und Mitarbeiter Gottes findet.
Mit Beginn der Wassermannzeit sind alle Überlieferungen relativiert und zugänglich geworden. In ihrer Wurzel entstammen sie allesamt, ob sie sich nun von einem Kulturheroen oder von göttlichen Inkarnationen ableiten, der mystischen Erfahrung. Wobei ich mit diesem Wort ein Innewerden meine, was erinnert und in Tat umgesetzt werden kann. Die Psychologie und Naturwissenschaften haben gezeigt, dass mit Ausnahme organisch Kranker jeder Mensch kreativ und liebend ist und es nicht eine Frage des Erbes, sondern der kulturellen Umwelt ist, ob er seine Anlage zum Weg erheben kann. Durch die Verwandlung der Erdzivilisation in die Teilhard’sche Noosphäre —
- der auf Sicherheit bedachte sozialistische Osten als Entsprechung der rechten Hemisphäre des Großhirns,
- der unternehmungslustige kapitalistische Westen als Entsprechung der linken,
- der technokratische Norden als Entsprechung der hinteren sprachlichen Region
- und der religiös-traditionelle Süden der Entwicklungsländer in Entsprechung zur vorderen Region —
bildet die Erde einen potentiellen Rahmen für die Selbstaktualisierung jedes Einzelnen, zumal die Pioniere der Naturwissenschaft erkannt haben, dass nicht das Überleben, sondern die Vermehrung der Information, des Sinnes das einzig erkennbare Ziel der natürlichen Evolution ist.
Der Mensch dient der Natur auf jeden Fall, ob er frei ist oder nicht. Es gibt keinen richtenden Gott, der ihm auf die Finger schaut, mag er sich irren, so ist das seine Angelegenheit. Gott ist nicht allwissend, ist kein Vater und keine Mutter, sondern der ausstrahlende Quell der Liebe; darin vergleichbar der Sonne, die auf alles scheint, ohne sich um den Wert des Einzelnen zu kümmern. Aber in dieser Liebe erkennt jeder seine innerste Wurzel, die ihm als Wiedererreichen der Unschuld zugänglich wird: als Erringung der Zeitlosigkeit, der Ewigkeit des Augenblicks.
Wird der Durchbruch zum Sein nicht sozialisiert, das heißt findet er nicht seinen Niederschlag in der Teilhabe am großen Werk, so lebt der Mensch nur mit einem Teil seines Wesens. Viele Mystiker leben daher im Verborgenen. Ferner ist in jeder Religion, die der Zeit standhielt, die gesamte mystische Wahrheit enthalten und kann jederzeit durch Hingabe und Zuwendung wiederentdeckt werden. Aber sie kann auch falsch interpretiert werden, wenn Machtmenschen, die die funktionelle Hierarchie als Seinshierarchie missverstehen, sich für eine Elite halten, die die anderen zu leiten vermag. Dieses Missverständnis vermeintlichen Überlegenheit zieht sich nicht nur durch die Religionen, sondern auch durch die bürgerlichen Standesordnungen. So hörte ich neulich einen Universitätsprofessor sagen, der existentielle Wert eines Menschen hänge von der Bildung ab: Volksschule, Matura, Magister, Doktorat und Habilitation seien echte Seinsstufen und bildeten eine heilige Ordnung mit dem Professor als Experten obenan!
Wer zur mystischen Erfahrung durchgestoßen ist, erlebt seine Gleichwertigkeit und Verbundenheit mit allen Kreaturen. Oft ist die mystische Literatur missverständlich, weil sie sich hymnisch und elegisch ausdrückt, gleich wie in der Liebesvereinigung das Gestammel der Liebhaber nicht das Erleben erklären und mitteilen kann. Doch die gleiche Erfahrung lässt sich auch nüchtern und kritisch bestimmen, denn sie ist die verlorene menschliche Norm. Daher müssen wir die Heiligen Weisen, um den chinesischen Begriff zu verwenden, nicht als Spitze einer Pyramide deuten, sondern als jene bestimmen, die auf die Ebene des eigentlich menschlichen Niveaus — das Wort bedeutet Fläche — durchgestoßen sind, und die anderen als Lernende, die noch auf der Treppe stehen und beruflichen Fortschritt mit geistigem gleichsetzen, als zu überwindende Zwischenstufe betrachten.
Mystik kann nur gelehrt werden, wenn das Lehren nicht durch staatliche Verbote gefährdet wird, da das menschliche Wachstum pflanzlich ist; auch ein Baum kann bei mangelndem Wasser oder schlechten atmosphärischen Bedingungen sterben.
Heute haben wir in Mitteleuropa das erste Mal seit der Antike eine Welt, in der keine Macht ernstlich die Mystik bekämpft; Kapitalismus und Kommunismus sind beide säkularistisch eingestellt, Religion ist für sie ideologischer Überbau oder Illusion und deshalb ungefährlich. Ferner ist der Kampf gegen den Missbrauch geistiger Macht, wie sie heute noch in den Ländern der dritten Welt existiert, immer im Sinne der Mystiker gewesen. Der Kampf gegen die Orthodoxie aller Überlieferungen bildete die Schwelle zum persönlichen Durchbruch.