Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Das Nichts im Etwas

5. Mystik

Das unterscheidende Bewusstsein des Unerschöpflichen

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Paramashiva
(Brahman)
DAS UNERSCHÖPFLICHE
URGRUND + URSPRUNG
wird zugänglich über

1
die Einung von
2

Bhairavi (Shakti)
URKRAFT
und Bhairava (Shiva)
URLICHT

Erfahrbar und gegenwärtig ist das Unerschöpfliche als Urkraft und als Urlicht. Wer in dem einen oder anderen dieser beiden so völlig aufgeht, dass sich auch wiederum die letzte Identifikation mit dem Kraft- oder Lichtaspekt löst — dass Urlicht Urkraft, Urkraft Urlicht einbezieht — wird über die Einung des Unerschöpflichen inne.

Die 112 Verse zeigen den Reichtum der Möglichkeiten, aus der Vielfalt unserer Welt den Zugang zu Urkraft-Urlicht zu finden.

Wer hat nicht schon selbst Zwischenräume entdeckt, aus denen plötzlich Fülle, Friede quoll? Wer war nicht für Augenblicke aufgehoben im All? Wes Bewusstsein war nicht vielleicht einmal in feinstem Licht gebadet, das Licht und Schatten aller Anschauung im Wissen ohne Gegenstand vereinte?
Wie kann man solche Öffnungen im Weitergehen finden?
Wie kann man dort verharren? Nein, nicht verharrend stehenbleiben — aussteigen aus dem Leben! Wie kann die Vielfalt, die Bewegung selbst ein einzig Finden dieses Ursprungs sein? Wer kann ihn finden?
Wer ist’s, der in Bewegung ruht?
Manche dieser Fragen werden durch die Slokas so bewusst gemacht, dass sie der Antwort nicht mehr bedürfen, dass sie in ein direktes Innewerden münden.

Die Verse richten sich an den Menschen als Yogi — wie Buddhas Predigten den Strebenden über O Mönch ansprechen.
Aber wer ist dieser Yogi im weitesten Sinn?
Einer, der das Joch auf sich nehmend dem Unerschöpflichen über die Einung zustrebt?
So spricht im Anfang dieser Slokas das Urlicht zur Urkraft:

O Göttin, nun habe ich Dir den Nektar gezeigt, den nichts übertrifft.
Niemals ist er zu offenbaren solchen, die anderem zugetan: den Bösartigen, Verhärteten, der Ehrfurcht Ermangelnden.
Jedoch den nach Einung Strebenden, die niemals Zweifel hegen, den Helden und Großmütigen und allen, die die Folge der Meister achten — in Dörfern, Reichen, Städten — den Söhnen, Frauen und Verwandten ist er in seiner Gänze zu enthüllen.

Indien ist das Land, wo sich der Stieraspekt des Tierkreises auf der Erde verwirklicht. Der Yoga ist die Methodik eines Stierlandes, einer Stierkultur; das bedeutet, dass der Körper, die Welt der Dinge und das Empfinden den Schwerpunkt bilden. Diese Einstellung spiegelt sich auch in den vorliegenden Slokas, obwohl der letzte Vers in philosophische Sprache übersetzt besagt: Wem es gelingt, das Denken, Empfinden, Fühlen und Wollen zu transzendieren, der west im reinen Bewusstsein. Die tragende Achse des Yoga liegt im Empfinden — Fühlen, wobei das Empfinden den Ansatz gibt. Das Empfinden wird in all seinen Möglichkeiten erkannt, entfaltet, zum Werkzeug gemacht — darinnen liegt die einmalige Leistung der Tantrik womit der Yogi in gleichzeitig gleichmäßiger Wahrnehmung alles einschließend zum Nichts vordringt.
Damit wird das Fühlen, das Verhaftung schafft, entbunden. An anderer Stelle wird die Triebkraft des Gefühls im Innewerden seiner selbst in ihren Ursprung, in die Seligkeit zurückgeführt.
Das Wollen, auf Einung gerichtet, ist Anfang und Ende. Das diskursive, das gezweite Denken wird einfach aufgelöst, unschädlich gemacht.
Mit dem technischen Zeitalter sind wir nun im Zeichen des Wassermann in eine Periode des Körper-Denkens — Denken das sich verkörpert — eingetreten. Der Körper wird zum Wirkungsfeld, und wir greifen mit Recht auf eine Kultur zurück, die auf dem Körperlichen gründete. Daher befassen sich heute viele mit den Methoden des Yoga, um sich nicht mit Hindernissen abzumühen, die schon in ferner Vergangenheit erkannt und überwunden wurden.
Gleichzeitig wird in unserem Denkzeitalter das Denken selbst zum Werkzeug und zum Weg, sowohl in die Verwirklichung als auch zurück zum Unerschöpflichen. Die Einstellung, die Weisungen des Vijnana Bhairava Tantra einschließlich der Auflösung des diskursiven Denkens zeigen auch heute gültige Bedingungen, um das Denken zu einem Werkzeug zu machen; um Wege zu finden, die noch nie begangen wurden.

Als ich begann, diese Verse zu übersetzen, war ich nur bestrebt, ihnen eine Form zu verleihen, in der mir der Inhalt ganz und gar verständlich werden könnte. Als ich mit wachsender Begeisterung die unglaubliche Vielfalt, die Kraft und Tiefe der Aussagen entdeckte, wurde mir klar, dass diese Text allen bekannten und unbekannten Freunden, allen Yogaanhängern und allen im Sanskrit-Text aufgezählten auch in deutscher Sprache zugänglich gemacht werden sollte.
Wenn man gemeinsam mit anderen die Kunst des Yoga übt, ist es nicht ratsam und garnicht möglich, viel über Ziel und Zweck zu reden. Und doch kommt es vor, dass man über die Bemühung um die Technik das eigentliche Ziel vergisst. In diesen Versen ist das einzig unveränderliche Ziel aller möglichen Bestrebungen so einfach und klar veranschaulicht, dass es zum tatsächlichen Innewerden führen kann, gleichgültig ob sich der Leser im Lehnstuhl, im Bett oder im Lotussitz in sie vertieft. Dabei sind diese Slokas nicht bloß eine Folge schöner Worte, die das Herz erfreuen, sondern jeder Vers ist eine ganz konkrete, genaue Weisung, die, wenn sie zur Gänze durchgeführt wird, ins Ziel münden muss.
Die Slokas stellen tatsächlich 112 Beispiele möglicher Techniken dar, um aus den verschiedensten Umständen die Verbindung mit dem Ursprung wieder herzustellen. Wer aber das Prinzip einer Technik versteht, wird eigene Variationen erfinden.

Einige dieser Verse werden tatsächlich nur jenen verständlich sein, die mit dem Yoga vertraut sind; diesen werden sie bewusst machen, was sie vielleicht schon teilweise erfahren haben. Aber jeder wird den einen oder anderen Vers finden, der ihm wirklich viel bedeutet und seine eigenen Möglichkeiten aufdeckt.

Wilhelmine Keyserling
Das Nichts im Etwas · 1984
Mystik der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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