Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Nichts im Etwas

1. Asklepios

Urgrund der Transzendenz

Die Mystik hat eine theoretische Voraussetzung: dass unser gewöhnliches Erleben nur einen Teil der Wirklichkeit betrifft und wir einige Schleier lüften müssen, um die Ganzheit der Offenbarung zu erreichen. Diese Ganzheit bedeutet aber nicht einen Aufstieg, sondern eine Vertiefung bis zum Kern, bis zum Urgrund der Transzendenz. Während manche prophetische Traditionen behaupten, der Mensch müsse sein wahres Bewusstsein durch Aufpfropfung erlangen, wie man etwa einen Apfelbaum veredelt, und das natürliche Bewusstsein sei als Fall, als Sünde zu verstehen — wie das Wort des Apostel Paulus verdeutlicht: Das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Anfang an — ist der Mystiker aus eigener Erfahrung der Überzeugung, dass die Wahrheit dem natürlichen Menschen zugänglich ist, aber ein Durchstoßen von Schleiern und Überschreiten von Schwellen verlangt, die den Menschen von seinem Ursprung trennen. Ferner sind diese Schwellen nicht Ergebnis einer Urschuld oder ein Hindernis, das durch Abfall des Menschen von Gott entstanden wäre, sondern Entwicklungsstufen, die für die Entfaltung der Freiheit notwendig sind. So kennt die mystische Erfahrung auch keine von oben auserwählten Menschen, denen andere zu gehorchen hätten — der elitäre Weg ist für den Mystiker der eigentliche Sündenfall — sondern der Zugang zum Ursprung steht jedem offen, der das Urvertrauen gewinnt.

In hohem Maße ist der mystische Weg auf die Erde und ihre Gunst gerichtet; die Erdgöttin ist ebenso Brücke zu Gott wie der Himmel. In ihrem Inneren ist der Zugang zur umfassenden Muttergottheit des All, in der Formulierung des Scottus Eriugena zum dunklen Wollen der Schöpfung, bei den Indianern Wakhan, aus der die männliche Schöpfung, Skwan entspringt.

Der Abfall des Menschen ist eine Illusion, die es abzulegen gilt. Die mystische Tradition kann durch die Brille der moralischen Theologie nicht verstanden werden, weil diese historische Ereignisse — auf der Ebene der sinnlichen Wirklichkeit gelegen — für das Wahre hält, während sie für die Mystik erfolgreiche Theaterstücke bedeuten. Zu sehr ist die Kirchengeschichte und Liturgie mit dem Machtstreben verknüpft gewesen, als dass sie einen unbekümmerten Blick auf die innere Wahrheit eröffnete. Viel leichter ist der Zugang bei den Naturvölkern zu finden, den Afrikanern, den Indianern Nord- und Südamerikas, den Brasilianern und den Schamanen der ganzen Erde.

Diese Völker lehren und leben die Einheit von äußerer und innerer Erfahrung auf vorkultureller Ebene. Deshalb glauben auch viele religiöse Menschen, dass nur eine Rückkehr zu archaischen Formen den Weg zum Heil vermitteln könne. Doch die europäische Kultur ist aus den gleichen Wurzeln entstanden und hat den Stammestraditionen etwas Wesentliches voraus: jene sind vorindividuell; die mystische Erfahrung, die prophetische Offenbarung und die magische Verwirklichung ist rituell in das Kollektiv eingebettet, vor der Ichentwicklung. Auch viele mystische Traditionen im Rahmen der Hochreligionen lehren die Ichtötung als Voraussetzung der Erleuchtung. Doch das Menschentier ist nur als Ich der Vision fähig, nicht als Kollektiv; nur der Einzelne kann eine Eingebung verkörpern. So verlangt die heutige Zeit nicht ein Verleugnen der vergangenen Fischeepoche, sondern eine Einbeziehung der mystischen Erfahrung auf höherer Ebene aus transpersonaler Sicht.

Die Naturvölker leben in einer participation mystique vergleichbar dem ozeanischen Fühlen, das psychologisch als infrapersonel bestimmt wird. Sie haben die Geborgenheit des Grundvertrauens der Mutter. Die heutigen Zivilisationsformen — Kapitalismus und Sozialismus, Technokratie und Nationalismen der dritten Welt — leben im Dazwischen, haben weder Grundvertrauen noch Urvertrauen. Der demokratische Staat der Neuzeit ist auf die Verantwortung der Ichs, der Personen und ihrer Selbstbestimmung begründet. Diese Formen fixieren den Menschen daher im entfremdeten Bewusstsein, das als personal bezeichnet wird.

Tod und Jenseits ist nicht mehr Erfahrung wie bei den prälogischen Stämmen und Klans. Doch diese technische Zivilisation ist heute unser Schicksal. Nur als einzelnes Ich kann der Durchbruch zum Urvertrauen, zur Kommunion mit der Gottheit wiedergewonnen werden. Die Stufen der Entschleierung lassen sich nicht kollektiv, sondern nur persönlich entschlüsseln.

Der Erfolg der humanistischen und transpersonalen Psychologie als Wegbereiter einer neuen höheren Kommunion im Sinne des Menschen als Freund und Mitarbeiter Gottes und nicht mehr als Untertan eines fordernden Patriarchen zeigt, wie sehr überall Menschen an die Schwelle der mystischen Erfahrung kommen. Doch gilt es heute einen bewussten Schritt zu machen: diese kritisch in der gleichen Klarheit zu bestimmen wie wir es im Verhältnis zur Natur und zur Gesellschaft gewohnt sind. Die Texte der Überlieferung und die Riten lassen sich aus dieser Sicht anders formulieren, als nur romantisch und apologetisch; auch aus unserer Welt kann der Durchbruch erzielt werden. Auch alle Leistungen der psychologischen Pioniere waren eine Mischung aus historischer und wissenschaftlicher Bildung und persönlicher Intuition, die ihre Rechtfertigung in der therapeutischen Wirkung fand.

Ich verdanke die nun folgende Rekonstruktion des Mysteriums von Asklepios einerseits der Textkritik der Theologen und Mythenforscher, andrerseits der vergleichenden Religionswissenschaft und der Bewusstseinsforschung. Die Anregung zu dieser Vertiefung kam durch ein Ritual, das ich über Malcolm Lazarus kennen lernte, der es auf der Insel Kos entdeckte, und die logische Klärung durch ein Seminar der Suggestologie von Bruno Savoyat, der sich auf die Traumtechnik von Patricia Garfield stützt, und durch die Erhellung der brasilianischen Tradition der Trance im Zusammenhang mit der Sophrologie bei Jacques Donnars. Doch ausschlaggebend war die eigene mystische Erfahrung im Zusammenhang mit dem Erdheiligtum und Träumen, die mir die Richtung der Arbeit von Nacht zu Nacht immer wieder zeigte.

Auf Asklepios lassen sich zwei Richtungen zurückführen: einerseits die hippokratische Medizin, die bis heute den Äskulapstab als ihr Symbol führt, die um einen Stock geschlungene Natter, und anderseits die Hypnagogik, die Heilung im Schlaf, die durch das zweite antike Mysterium der Isis zu ergänzen wäre. Nehmen wir ferner die fünf Stufen der mystischen Vertiefung bei Dionysius Areopagita hinzu:

  1. Reinigung,
  2. Erleuchtung,
  3. Initiation,
  4. Gottähnlichkeit,
  5. Vergottung,

so haben wir das Material umrissen, woraus der griechische mystische Weg wieder zum Leben erweckt werden kann.

Das Heiligtum des Asklepios in Kos war folgendermaßen aufgebaut: Ein heiliger Berg ist an seinem Fuß von einer Mauer umgeben mit einem Tor. Es hat fünf Ebenen; auf jeder ist eine andere Aufgabe und eine andere Initiation. Die Ebenen sind durch je sieben Stufen voneinander getrennt: die erste ist das Tor, die zweite hat ein eingefasstes Wasserbecken, die dritte die Zelle des Fastens und der Integration, die vierte links den Tempel der Helferin, rechts des Helfers, auf der fünften liegt der Tempel des Gottes, mit den Liegestätten der Adepten, denen er im Tiefschlaf als Schlangengott Heilung und Weisung brachte.

Jeder Adept musste einen Traum finden, der ihm unverständlich war und für den er vom Schlangengott Antwort suchte. Mit diesem Traum kam er zum Türhüter, einem Priester, der ihn nur dann einließ, wenn der Traum die nötige Tiefe hatte und nicht aus der Sphäre des Alltags stammte.

Nachdem er eingelassen war, schritt er die sieben Stufen hinauf bis zum eingefassten Becken. Dort wartete der Mystagoge auf ihn. Er zog sich nackt aus, legte seine ganze Vergangenheit, sein Karma in einer Art Bekenntnis ab und wusch sich im Becken, womit er die Unschuld wieder erreichen sollte. Danach zog er ein weißes Gewand an, das neben dem Becken auf ihn wartete, und stieg die nächsten sieben Stufen bergan.

Nun kam er an ein Gebäude mit vielen Zellen und suchte die seine. Dort fastete er eine bestimmte Zeit, die ihm von dem Priester nahegelegt wurde, die Anzahl der Tage war dabei wichtig, und wurde dadurch fähig, die vier Elemente — Feuer, Luft, Wasser und Erde durch Richtung auf Liebe in Harmonie zu bringen.

In der Natur sind die Elemente in stetiger Bewegung, wobei das Feuer den wandelnden Faktor darstellt. Doch das Feuer kann ohne Luft, Wasser und Erde nicht leben: so gilt es, die Heilung nicht nur als Anpassung zu verstehen, sondern die etwaige Krankheit als Hinweis, wie man zu seiner eigentlichen Aufgabe vordringt. Über diese Rolle der Heilung als Weg zur Berufung im Asklepiosritus gibt es eine genaue Beschreibung des Aristeides aus dem dritten Jahrhundert, der durch den Gott seine Berufung als Redner erkannte und erst nach der Annahme dieser Aufgabe geheilt war.

In der magischen Tradition zielt die Arbeit an den Chakras auf Integration und Durchlässigkeit des Wesens für die kosmische Schöpferkraft; auf dem mystischen Weg dagegen galt es auf der dritten Stufe im Fasten, der Festigung des Ichs als Werkzeug, die Eingliederung zu finden, um dem Wechselspiel von Yang und Yin gewachsen zu sein.

In der vierten Ebene nach nochmaligen Ersteigen von sieben Stufen, ging man zuerst zum Tempel der Göttin, um die Abhängigkeit von Mutter und Vater und ihren Symbolen, die den Durchschnittsmenschen sein Leben lang fesseln, in das Erleben der hilfreichen Möglichkeiten von Yin und Yang, Helferin und Helfer, Isis und Osiris, Mond und Sonne zu verwandeln, aus deren freiem Wechselspiel das Ich überhaupt erst gebildet werden kann. Priesterin und Priester waren stellvertretend für die beiden Wesenheiten, Hygieia und Pan.

Sobald man dazu reif ist, die Kräfte des Mondes und der Sonne — in der Chakrenarbeit Ida und Pingala die beiden Komponenten des Sushumna, des integrierten Bewusstseins im Kundaliniyoga — zu vereinen, dann begann der entscheidende Aufstieg über sieben Stufen zur höchsten Ebene, wo in einem geräumigen Gebäude auf vielen Liegestätten, bedeckt mit dem Widderfell die Adepten auf die Vision warteten. Hier im Tiefschlaf erschien der Schlangengott Asklepios, der die Antwort auf den ursprünglichen Traum gab und dem Menschen damit seine Aufgabe zeigte.

Während der Aufstieg sich allein vollzieht, war der Adept an der Tiefschlaf-Todesschwelle in Gemeinsamkeit mit allen Strebenden. Der Gott der Erde, männlicher Aspekt der Erdfrau in der Schlange, gab jedem jene Antwort, die die kosmische Ergänzung seiner Frage bildete.

Damit hatte er die Initiation errungen und konnte zurück ins Alltagsleben als ein Verwandelter. Beim Asklepios-Ritual war die Antwort des Schlangengottes in der Vision das Ziel, im Mysterium von Eleusis das Erleben des weißen Lichts, in wieder anderen Mysterien das Entzücken der Geborgenheit in der göttlichen Liebe.

Im Weg zurück durchlief der Adept wieder alle Stadien: er begegnete dem Helfer und der Helferin; er wurde Zeuge seiner früheren Integration, erkannte seinen Organismus als Werkzeug seiner Aufgabe. Er zog das alte Gewand wieder an, das nicht mehr Wesen sondern Maske bedeutete, und verabschiedete sich vom Türhüter als einer, der immer wiederkehren kann, sobald er im Geiste diese Stufen durchschreitet.

Der Ritus des Asklepiosheiligtums war eine Einübung in die mystische Erfahrung. Die Priester waren Therapeuten; doch die entscheidende Weisung geschah nicht durch sie, sondern durch die Erscheinung des Asklepios im Tiefschlaf. Insofern können wir das Mysterium aus seiner Tradition lösen und in seinen Stufen als Imagination durchleben, wenn eine existentielle Notwendigkeit vorliegt.

Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas · 1984
Mystik der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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