Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die sechste Schule der Weisheit

2. Geschichte

Hermann Keyserling

Die Sufis schufen die Vereinigung der Traditionen in Turkestan. Sie lehrten den Weg der Arbeit an sich selbst, wie er erst durch Gurdjieff bekannt wurde. Als Handwerker lehnten sie das weltliche Leben nicht ab, ja sie maßen ihren Läuterungsweg an der handwerklichen Perfektion. Doch blieben auch sie im Verborgenen, um der Auseinandersetzung mit den orthodoxen Sunniten auszuweichen. Ihre Synthese bestand bis zur mongolischen Eroberung und Zerstörung Turkestan und erwachte erst wieder in den späteren Geheimgesellschaften und Bruderschaften, von denen sich im christlichen Bereich die Freimaurer und Rosenkreuzer ableiteten.

Durch die nächsten Jahrhunderte gab es viele einsame Weise, die in Widerspruch zur Orthodoxie standen, aber meistens versuchten, ihr Wissen in deren Rahmen einzugliedern. Die vierte Schule der Weisheit wurde von meinem Vater Hermann Keyserling 1920 in Darmstadt gegründet, wobei er sich des buddhistischen Ursprungs bewusst war; im ersten Weltkrieg wollte er sich in ein koreanisches Kloster zurückziehen, wurde aber durch die politischen Ereignisse der Revolution gezwungen, eine ganz andere Entwicklung zu nehmen.

Hermann Keyserling war der Enkel des Grafen Alexander Keyserling, Ritterschaftshauptmann von Estland, langjähriger Kurator der Universität Dorpat, Geognost und Biologe. Darwin zitierte ihn als einen der Inspiratoren seines Werkes. Doch war für ihn die Evolution wie für Teilhard de Chardin auf das Ziel der Vergottung gerichtet. Er betrachtete die Naturwissenschaft als Weg zur Weisheit. Sein Leitspruch war das Wort des Apostel Johannes:

Der Weg der Wahrhaftigkeit wird euch zur Wahrheit weisen.

Auch Hermann Keyserling begann sein Leben als Geologe, wandte sich aber unter dem Eindruck von Chamberlain mit seinem weltweiten Denken schon mit fünfundzwanzig Jahren der Philosophie zu. Er nannte sein erstes Werk 1905 Gefüge der Welt. Ausgehend vom pythagoräischen Denken, der Geologie und Kristallographie, glaubte er in einer anders verstandenen Mathematik die ratio essendi zu erkennen. Mit seinem Prolegomena zur Naturphilosophie begründete er den perspektivischen Gesichtspunkt als Methode; verschiedene Wissenschaften sind unterschiedliche Ansätze, die sich aber auf den gleichen Gegenstand beziehen, wie etwa Anatomie und Physiologie auf den Körper.

In seinem Werk Unsterblichkeit erlebte er diese als ein überpersönliches Phänomen. Er musste erkennen, dass die abendländische Tradition nicht seinen Ansatz erfüllen könnte. So schiffte er sich 1911 zu einer Reise um die Welt ein, wobei er die fremden Kulturen nicht wie damals üblich aus kolonialistischer Sicht, sondern aus ihren eigenen Kriterien zu begreifen suchte.

Das Reisetagebuch eines Philosophen mit dem Motto des Apostel Paulus,

der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum,

wurde begeistert in vielen Ländern aufgenommen. Gleichzeitig mit dem Erfolg kam es zur Enteignung seines Großgrundbesitzes in Estland, und er musste die Philosophie und Vortragstätigkeit zu seinem Beruf erheben.

1919 erhielt er eine Einladung des Großherzogs von Hessen, in Darmstadt eine philosophische Schule im Geist dieses Buches zu eröffnen. Lange überlegte er sich, was diese wohl für einen Sinn haben könnte und 1920 erschien eine Gründungsschrift der Schule der Weisheit Was uns not tut, was ich will. Es gelte den Sinn all dessen zu erweisen, was dem Leben früher Halt gab, aber durch vorläufige Kritik der Aufklärung zerstört war — den Sinn des Mythos, der Ethik, der Esoterik und der Religionen. Die Schule wurde 1920 zusammen mit Rabindranath Tagore eröffnet, den er seit Jahren kannte und der gleich ihm den universalen Menschen der Zukunft als Lehrziel sah.

Die Wahrheit ist in keiner Philosophie, keinem Bekenntnis und keiner Tradition restlos enthalten. Sie kann nur aus dem Zusammenspiel vieler Persönlichkeiten, die ihren Weg gefunden haben, erlebt werden. Die wissenschaftliche Perspektive ist zu klein. Sie bleibt am diskursiven Bewusstsein hängen.

Aus diesem Grund lehnte Hermann Keyserling eine Berufung an die Universität Wien ab, und forderte von den Hörern und Mitarbeitern der Tagungen Verzicht auf Diskussion und eine rein aufnehmende Einstellung. Die Wahrheit liegt oberhalb der Meinungen. Doch kann sie auf gleichsam musikalischer Zusammenhang vieler Richtungen vermittelt werden: die polyphone Zivilisation als Internationale der Individualitäten, die im Sinne Ralph Waldo Emersons zu representative men der Gattung geworden sind. Viele Persönlichkeiten der Zwanzigerjahre nahmen als Vortragende an den Tagungen der Schule der Weisheit teil, so C. G. Jung, Richard Wilhelm, Leo Frobenius, Paul Tillich, Leo Baeck, Nikolai Berdjajew, Ernst Tröltsch und Paul Dahlke. Den Höhepunkt bildete die Tagung Mensch und Erde 1927. Anschließend kam in Deutschland der Nationalismus zum Durchbruch und mit Beginn der Naziherrschaft wurde die Schule geschlossen.

Der nächste Schritt seines Werkes war, Völker und Kulturen als Material der Selbstverwirklichung des einzelnen ohne metaphysischen Wert zu bestimmen, wie in den Büchern Spektrum Europas, America set free und den Südamerikanische Meditationen. Diese Bücher trugen ihm alsbald eine ebenso große Feindschaft ein, wie das Reisetagebuch Zustimmung. Doch ging er seinen Weg unbeirrt weiter und wandte anschließend seine Aufmerksamkeit den Problemen des persönlichen Lebens zu.

Den Abschluss seines Werkes bildete Das Buch vom Ursprung, wo er ähnlich wie Bergson die zwei Wurzeln der Existenz, die irdische und die geistige bestimmte, und die bestehende Zivilisation als rationales Zwischenreich ohne metaphysischen Wert entlarvte.

Nach dem Krieg wurde er von der Österreichischen Regierung und der französischen Besatzungsmacht in Tirol aufgefordert, seine Schule wieder zu eröffnen. Er starb 1946 einen Monat vor dem geplanten Inaugurationskongreß, und ich übernahm die Leitung der Schule. Bald musste ich erkennen, dass diese einen anderen Ansatz haben müsse als die vierte mit ihrem Augenmerk auf große Persönlichkeiten. Die Aufgabe der fünften Schule wäre, alle Wege zu erkunden, wie ein Mensch aus dem falschen Bewusstsein in das echte Gewahrsein überwechseln könne. Als erstes nahm ich mir das ganze Werk im Winter 1946-47 vor und schrieb jeden Satz heraus, der mir wichtig erschien, um die Ordnung des Sinnes zu erkunden. Doch diese Ordnung war noch nicht ersichtlich. So begab ich mich auf die Suche nach den gemeinsamen Nennern, die allem Wissen zugrundeliegen und fand sie in der Mathematik.

Was macht den Stil einer Philosophie oder eines Lebens aus? Er bedeutet eine Zusammenfügung von Grundkomponenten. Ihr Sinn liegt nicht in einer sprachlichen These, sondern in der Qualität der natürlichen Zahl.

Die Numerologie war zu einem esoterischen Aberglauben erstarrt. Ich erlebte nun, dass die neun Ziffern unmittelbar die Inspiration oder Intuition eröffnen können. Wenn man einen übergeordneten Zusammenhang sucht, etwa im Schreiben eines Buches, dann liegt er in der Wahl der Zahlenparameter. Im Anfang bemühte ich mich bewusst etwa einen Aufsatz in fünf, sechs oder sieben Teile zu gliedern. Aber bald machte ich es andersherum; ich schrieb spontan und stellte nachher fest, welche Zahl und damit welcher Sinn sich darin ausdrückte. Wie entgeht man aber der Gefahr einer künstlichen Numerologie wie der Kabbala, die darauf beruht, dass die gleichen Zeichen Buchstaben oder Zahlen bedeuten. Worte können nur dann zur Wahrheit führen, wenn sie aus dem Subjekt herrühren und damit der Null, mathematisch der Klasse aller natürlichen Zahlen.

Ich hatte mein erstes Erleben der metaphysischen Wahrheit beim Lesen von Ramana Maharshi. Das menschliche Schicksal erfüllt sich als Vereinigung von Selbst und Ich, von Karma und Dharma, wenn das Ich zum Organ des Selbstes geworden ist. So muss das Streben nach Weisheit an der eigenen Motivation ansetzen und dann aus dem Zeitgeist die Intention wecken, die den persönlichen Lebenssinn schafft.

Hierzu muss aber die Zahl selbst erfahrbar werden. Dies ist in der Musik möglich. Musik als Zeitkunst beruht auf Zahlen, und das Anhören einer großen Musik kann das Bewusstsein in das Gewahrsein verwandeln.

Gewahrsein ist der Zusammenhang des aus Ich und Selbst geschaffenen Wesens mit der Ganzheit. Es ist also kein Wissen, sondern ein Nichtwissen. Wie ein Musikstück verklingt, wird verstandenes Wissen zum Gedächtnis integriert. Somit müsste an die Stelle des Bewusstseins und einer Weltanschauung eine Klaviatur der Begriffe treten, aus der der einzelne im sprachlichen Bereich frei kombinieren kann.

Dieser Kombination liegt ein Raster zugrunde. Ich hatte dessen Existenz als Kind beim Lauschen des Wohltemperierten Klaviers von Bach durchgespürt. So begann ich mich ab 1947 im Zusammenhang mit dem Werk von Hans Kayser mit der physikalischen, physiologischen und psychologischen Grundlage der Akustik zu beschäftigen. Hier hatte ich nun das Glück, zwei Lehrern zu begegnen, die mir den Einstieg ermöglichten und zu ihrer Zeit fast unbekannt waren. Von Gurdjieff lernte ich das senkrechte Gesetz der Obertonreihe und das Enneagramm, von Josef Matthias Hauer die Bedeutung des Quintenzirkels und des Zwölftonspieles.

Wie stehen nun beide Tonkriterien zum Dezimalsystem der Hände? Im Denken sind alle Ideen und Erscheinungen nach den Gesetzen der Logik zu verbinden. Doch in den Sinnen sind sie geschieden; hören ist nicht sehen oder riechen. Ich vermutete, dass die Hände ein Spiegel dieser Struktur seien. Die Finger entsprächen den Sinnen, die Linien den möglichen Kombinationen der Bewusstseinsinhalte. Hieraus erkannte ich die Grundstruktur der Seinsvernunft: das Gesetz der Kombination der Worte ist die Grammatik, die unbewusst der Information und Wissensbildung zugrundeliegt. Allein in ihr, wie die dritte Schule der Weisheit erkannt hatte, sind Quantität und Qualität identisch. Die Wortarten im Enneagramm sind der Ursprung alles Sinnes.

W o r t a r t e n · i m · E n n e a g r a m m

Es gibt eine Art des Bindewortes, zwei der Hauptworte, drei Arten des Zeitwortes, vier des Verhältniswortes, fünf Kategorien des Eigenschaftswortes, sechs Personen des Zeitwortes, sieben Kategorien des Fürwortes, acht des Umstandswortes und neun Formen des Zeitwortes.

Arnold Keyserling
Die sechste Schule der Weisheit · 1994
Pädagogik für eine globale Gesellschaft
© 1998- Schule des Rades
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