Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die sechste Schule der Weisheit

2. Geschichte

Klärung des Rades

Anschließend machte ich, eingeladen vom deutschen Goethe-Institut eine Vortragsreise durch Südostasien und fuhr dann zurück nach Wien, wo mir seitens des Unterrichtsministeriums ein Lehrauftrag zugesichert war. 1963 lehrten wir beide beim Vorstudienlehrgang der Universität Wien deutsch für Ausländer und lernten damit Araber, Türken und Afrikaner kennen. Ab 1964 bekam ich die Gelegenheit bei der Akademie für Angewandte Kunst meine Schau der Geschichte als langsame Klärung des Rades in einem Jahreskurs zu unterrichten. Damit kam unsere Arbeit in die Öffentlichkeit. Alsbald begannen wir auch das Rad zu unterrichten. Ich schrieb immer neue Bücher über Aspekte der Weisheit und es bildete sich eine Forschungsgruppe, der Studienkreis KRITERION heraus.

1966 lernten wir im Rahmen der Österreichisch-Indischen Gesellschaft, die wir 1964 gegründet hatten, den Hatha Yoga kennen, und damit ein Mittel, über die Kenntnis des Körpers und seines kinästhetischen Ebenbildes zum Gewahrsein zu gelangen. 1969 entdeckte ich eine Musik, die sakrale Pentatonik, die ein physikalisches Hilfsmittel zur Vereinigung von Ida und Pingala, mentalem Energiefeld und physiologischem Erleben bot. Das Gewahrsein, hinduistisch Samadhi oder Enstase, ist im Körper als menschliche Norm vorgebildet. Es handelt sich also nicht im Yoga um Erreichung eines übermenschlichen Zustandes, wie es Aurobindo vertreten hatte, sondern um Erkenntnis der menschlichen Integration, der Mündigkeit oder Reife.

Ich begann an vielen Orten in Europa im Rahmen der Yogagruppen zu unterrichten. 1979 mündete diese Tätigkeit in die humanistische Psychologie, deren europäischen Verband ich bis 1984 leitete. Anschließend lernten wir die schamanische Überlieferung der Indianer kennen, wobei die Bücher Castanedas den Einstieg gaben, veranstalteten Kongresse mit Schamanen und begannen diese Tradition einzubeziehen.

1972 hörte ich nach einem Ritus der zwölf Nächte in fünfzehn Botschaften eine göttliche Stimme, in kabbalistischer Überlieferung die Stimme des Ostens. Die erste Botschaft endete mit dem Satz Der Mensch im All ist Ich. Also keine elitäre Forderung wie bei Moses, sondern die Verkündigung eines Weges, der vom Dunkel zum Licht, von der Erde zum Himmel führt.

Der patriarchalische Weg ist zuende. Jeder muss fortan seinen eigenen Weg aus seiner Motivation suchen, um an der neuen Zeit über seine Intentionen mitzuwirken.

Mit den Indianern lernten wir die heiligen Richtungen des Raumes kennen. Nach langer Einübung in diese Tradition begründeten wir 1982 das Erdheiligtum bei Wien und begannen die Hauptriten der Urreligion — die acht auch den Kelten bekannten Feste im Steinkreis, die zwölf Nächte der Zeitdifferenz von Sonnenjahr- und Mondjahr und die Visionsreisen der aktiven Imagination einzubeziehen, die die Traumsphäre als Weg zur Transzendenz eröffnen.

Durch Television und viele Kongresse wurde die Arbeit immer weiteren Kreisen bekannt. In mehreren Ländern bildeten sich Studiengruppen nach dem Vorbild des Studienkreis Kriterion in Wien.

Mit Erreichung des siebzigsten Lebensjahres stand ich vor der Aufgabe, die Geschichte der Schulen abzuschließen und ihren Zusammenhang in eine Arbeit am Werk der Erde zu verwandeln. Ich nahm den Mythos des Kesar Ling zum Anlass und gliederte das Radwissen in sechs Abschnitte:

  1. Semiotik, die Sprache als Teil der Evolution.
  2. Kosmogonie. Naturwissenschaft und Mathematik als Einstieg zum Gewahrsein und zum Sinn.
  3. Yoga in seinem ursprünglichen Sinn als Weg zur Enstase.
  4. I Ging, der kombinatorische Code der Kreativität und des Lebens.
  5. Astrologie, die Anlage als Weg.
  6. Das divinatorische Meisterspiel, die mittelalterliche kabbalistische Lehre der Spielkarten als intuitive Einstimmung mit dem Menschen im All.

Die Bücher, Das magische Rad Zentralasiens, Geschichte der Denkstile und das Buch meiner Frau Anlage als Weg sind der Niederschlag der fünften Schule der Weisheit. Aus ihrem Zusammenhang will ich in folgendem mit der sokratischen Anamnese und Maieutik die Methoden aufdecken, die zur Erreichung des Gewahrseins führen können. Es gibt keine Eliten mehr, sondern jeder ist in der Wassermannzeit berufen, die eigene Brücke zwischen Himmel und Erde zu schaffen. Die Grundlage der sechsten Stufe der Weisheit ist nicht mehr an Pioniere gebunden, sondern das Rad selbst, das jeder in seiner Weise interpretiert und verwendet.

Arnold Keyserling
Die sechste Schule der Weisheit · 1994
Pädagogik für eine globale Gesellschaft
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD