Schule des Rades
Arnold Keyserling
Die sechste Schule der Weisheit
2. Geschichte
Das Rad der Lehre
Als Beginn der Weltgeschichte bezeichnen wir die jungsteinzeitliche Revolution vor 11.000 Jahren. Diese brachte eine biologische Mutation.
Während der homo faber, das werkzeugschaffende Tier seit wahrscheinlich vier Millionen Jahren existierte, kam es damals zu einer Wandlung: die Großhirnhemisphären, die bei den Tieren zusammenwirken, trennten sich voneinander. Raum, Zahl und Zeit wurden unterschieden. Die linke Hemisphäre wandte sich dem Wachen und der Zeit zu, die rechte dem Traum und dem Raum. Durch die Finger der Hände erwuchs die Erkenntnis der zehn Ziffern. An die Stelle des Arterhaltungsinstinkts trat die soziokulturellen Tradition, an die Stelle der Selbsterhaltung die Familie und Gemeinschaftsform. Die Werkzeugfähigkeit wurde zur artikulierten Sprache. Laute und Zeichen wurden in Begriffe verwandelt, die das Denken als eigene Funktion befreiten.
Bis diese Befreiung vollzogen war, bildeten sich zwei verschiedene Weltbilder. Die rechte Hemisphäre wahrte den Einklang mit der Natur und formte die weibliche Mondreligion, die linke suchte die Offenbarung und erschuf die männliche Sonnenreligion. In der Mondreligion war das Anliegen, über Kenntnis der Zeitabläufe Ackerbau und Viehzucht an die Stelle von Sammeln und Jagen zu setzen; die neolithischen Bauten sind allemal Kalender. Das zweite Weltbild konzentrierte sich auf die Offenbarungen aus dem Jenseits, um den Himmel auf der Erde zu inkarnieren.
In den ersten viertausend Jahren, der Krebszeit des Klans und der Zwillingszeit des Stammes, gab es noch keine Kriege. Mit der Stadtkultur der Stierzeit begann die Polverschiebung von der weiblichen zur männlichen Geistigkeit. Man suchte nicht mehr den animistischen Einklang mit der Natur, sondern die patriarchalische Nachfolge trat in den Stadtkulturen der Stierzeit und den Volkskulturen der Widderzeit bis zu den Reichskulturen der Fischezeit in den Vordergrund. Die Weisheitslehren waren entweder der Orthodoxie untergeordnet oder als esoterisch verboten, sie bildeten keinen Teil der soziokulturellen Tradition; die Weisen blieben einzelne.
Am Ende der Widderzeit kam es nun zur Entdeckung der Weisheit als Lehre und Weg durch den Buddha. Wir sind gewohnt, den Buddhismus als Religion wie Christentum und Islam zu betrachten. Aber aus seinem Ansatz heraus ist er eine Weisheitslehre, kein Ritual und kein Kultus. Sein Ziel ist die Erweckung des Buddhi, der Seinsvernunft oder ratio essendi im Unterschied zur Erkenntnisvernunft, der ratio cognoscendi. Diese Vernunft wird nicht durch Lernen gebildet, sondern enthüllt sich dem Strebenden schrittweise und spontan. Daher sind wir berechtigt, die Geschichte der Schulen der Weisheit von der Gegenwart aus zu betrachten, als eine langsame Klärung jenes geistigen Organs, welches den Menschen in den Worten Kants zu einem autonomen Wesen macht: das Erwachen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Buddha war ein Königssohn und lebte im Wohlstand. Eines Tages, mit neunundzwanzig Jahren, begegnete ihm bei einem Ausritt dreifältig das Leiden: in einem Pestkranken, einem gebrechlichen Alten und schließlich in einer Leiche, die am Weg zur Verbrennungsstätte vorbeigetragen wurde. Sakyamuni, der spätere Buddha, erkannte, dass der Sinn des Lebens nicht erreicht werden kann, wenn man nicht volle Klarheit über Diesseits und Jenseits, Leben und Tod gewinnt. Er verließ unbemerkt das Vaterhaus und zog zu einem strengen Asketen in den Wald. Doch mehrjährige Übungen brachten ihn nicht weiter und so gab er diese Bemühung auf.
Am Fuße eines Bodhibaumes beschloss er zu verharren, bis er die endgültige Erleuchtung erreicht hätte. Sie wurde ihm in drei Nächten zuteil. In der ersten erkannte er alle seine Inkarnationen von der Weltschöpfung bis zur Gegenwart, in der zweiten seine Aufgabe und in der dritten die Zukunft seiner Lehre; er erfuhr, dass diese in Indien nur tausend Jahre bestehen würde, um dann anderen Platz zu machen.
Seine Anhänger hatten ihn verlassen, als er die strenge Askese aufgab. Nun traf er sie wieder in Benares und verkündete ihnen: Der Weg ist gefunden. Er liegt zwischen Weltlichkeit und Askese und beruht auf vier Wahrheiten:
Alles Leben ist Leiden.
Die Ursache des Leidens ist der Durst nach Reinkarnation.
Es gibt einen Weg zum Aufhören des Leidens.
Dieser Weg ist der achtfältige Pfad.
rechter Glaube,
rechte Gesinnung,
rechtes Reden,
rechtes Handeln,
rechtes Leben,
rechte Absichten,
rechtes Denken,
rechte Versenkung.
Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit vom Leiden.
Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit von der Vernichtung des Leides.
Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit von dem Weg, der zur Vernichtung des Leides führt.
Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit vom achtfachen Pfad.
Damit war das Rad der Lehre
zu einer ersten Drehung in Bewegung gesetzt. Anfänglich folgten ihm hauptsächlich die Anhänger der Kriegerkaste. Aber allmählich gesellten sich auch einige Brahmanen zu ihm und bekehrten sich zu seiner Lehre. Fünfundvierzig Jahre wanderte der Buddha durch das nordwestliche Indien, aber ohne eine Schule zu bilden.
Mit achtzig Jahren wusste der Buddha seine Aufgabe beendet und hielt seine letzte Predigt:
Nichts ist in der sichtbaren und unsichtbaren Welten außer einer einzigen Macht, die ohne Anfang und Ende ist und nur ihrem eigenen Gesetz untertan. Versucht nicht, ihre Unermeßlichkeit in Worten zu fassen. Wer fragt irrt schon, wer antwortet irrt ebenfalls.
Erhofft euch keine Hilfe von den Göttern. Sie sind wie ihr dem Gesetz des Karma unterworfen, werden geboren, altern und müssen sterben, um wiedergeboren zu werden. Sie können ihr eigenes Schicksal nicht wandeln. Erwartet alles nur von euch selbst. Vergesst nicht: jeder kann jene höhere Macht erlangen.
Das Leben ist ein langer Todeskampf. Es ist nichts als Leid. Das Kind hat recht, wenn es weint, sobald es auf die Welt gekommen ist. Das ist die erste Wahrheit.
Die zweite Wahrheit ist, dass das Leid aus dem Durst, der Begehrlichkeit entsteht. Der Mensch hängt sich an Schatten; er stützt sich auf ein falsches Ich und richtet sich in einer bloß eingebildeten Welt ein. Wenn er stirbt, ist er gesättigt von einem vergifteten Trank und wird wiedergeboren, um von neuem von diesem Trank zu trinken.
Die dritte Wahrheit sagt, dass es ein Ende des Leides gibt. Du wirst dieses Ende aber nicht finden, wenn du nicht alle Vorstellungen und Leidenschaften aus deinem Herzen verjagst.
Nun höre die vierte Wahrheit vom achtfachen Pfad zum Heil. Achte zuerst auf das Karma, von dem deine künftige Existenz abhängt. Sorge sodann dafür, dass du nur positive Gefühle hegst und deinen Zorn überwindest. Schließlich bewache deine Lippen als wären sie das Tor zu einem Königspalast, damit nichts Unreines über sie komme. Danach richte deine Handlungen so ein, dass das Übel bekämpft und das Gute gefördert wird. Hast du in Befolgung dieser vier Wege den Egoismus beseitigt, den falschen Glauben, den Hass und die Verblendung, dann wirst du in der nächsten Existenz fähig sein, die vier nächsten Stufen des achtfachen Pfades zu beschreiten: rechtes Leben, rechtes Denken, rechtes Streben, rechte Versenkung. So wirst du ganz von selbst mit der Überwindung des Durstes nach dem Leben den Himmel gewinnen und mit der Überwindung des Hochmuts, dich auf dem Weg zum Heil zu wissen, dem Nirvana näherkommen.
Übersetzen wir nun diese vier Wahrheiten in unsere heutige Sprache. Dukha heißt nicht nur Leiden, sondern auch Bedingtheit von außen, durch Umstände oder andere Menschen. Dieses Leiden ist in der soziokulturellen Gesellschaft unvermeidlich. Man muss so lange abhängig bleiben, bis man den lokalen kulturellen Konsens erlernt hat, also Meister eines Fachs geworden ist: Arzt, Bauer, Arbeiter oder was immer. Erst dann kann man sich um sein Heil, die Befreiung bemühen. Die Ursache des Leidens ist der Durst. Im Zusammenhang mit der späteren Entwicklung des Yoga können wir formulieren: es sind die Vrittis, also die Assoziationen, aus denen ein falsches Selbstbild entsteht. Daher wandte sich der Buddha gegen die Brahmanen mit der Brahman-Atman-Identitätslehre. Sobald Atman beschreibbar wird, ist es eine Illusion, eine falsche Identifikation. So ist die Fesselung an das assoziative Bewusstsein das Leiden. Es kann durch Erleuchtung überwunden werden: durch den Schritt vom Bewusstsein zum Gewahrsein, der die geistige Wiedergeburt anstelle der Reinkarnation bedeutet.
Der Weg hierzu ist der achtfältige Pfad, in Yogasprache die Erweckung der Chakras. Das Bewusstsein ist vierfältig gesteuert, wechselt zwischen Wachen, Traum, Schlaf und Vorstellung. Durch Verkörperung der Gehirnstruktur im Leib, in den Chakras kann der Schwerpunkt vom Bewusstsein auf das Gewahrsein verlegt werden, das aus der Mitte, dem Wollen wirken kann.
7 Geist
6 Seele
5 Körper
4 wollen · 8 Gewahrsein
3 fühlen
2 denken
1 empfinden
Die Existenz der Chakras als Bindeglied wischen dem mentalen und physischen Körper war allgemeines Wissen der Schamanen. Doch auch bei diesen war es im Priestertum versunken und die Übungen zu ihrer Erweckung waren in Liturgie und Ritual erstarrt.
Aus der Lehre des Buddha entstand die erste Schule der Weisheit, später Hinayana oder Theravadim genannt. Ihr Ziel war die persönliche Erleuchtung, der Arhatzustand. Sein Erreichen sei der Sinn der menschlichen Existenz. Es wäre nur dem Mönch zugänglich, weil dieser in der feudalen Gesellschaft nicht von anderen Menschen abhängig war. Für Laien war der Weg verschlossen, bis sie selbst einmal in einer neuen Inkarnation Mönche werden könnten, wie Buddha in seiner letzten Predigt betonte.
Woran kann man einen Erleuchteten erkennen? Der Nichterleuchtete kann nicht wissen, dass ihm etwas fehlt. Die strengste buddhistische Meditation, später als Zen bekannt, wandte sich in apostolischer Nachfolge nur diesem Problem mit möglichst wenig Ritualbelastung zu. Doch um die Zeitenwende bemerkte der Philosoph Nagarjuna die Gefahr, in geistigen Egoismus zu verfallen. So lehrte er in der zweiten Schule der Weisheit als Ziel den Bodhisattva, der solange auf die eigene Befreiung verzichtet, bis auch der letzte Mitmensch erlöst ist.
Die zweite Schule hieß Mahayana, das große Fahrzeug im Unterschied zum kleinen, weil es vielen die Befreiung ermöglicht. Die Götter wurden wieder als Wesen akzeptiert, der Traum und der Geist phänomenologisch erfasst. Das Ziel war nicht mehr die Befreiung von den Identifikationen wie in der Schule der Achtsamkeit, Vipassana, sondern der Durchbruch zur Leere und zum weißen Licht, wie das Tibetanische Totenbuch es beschreibt. An die Stelle persönlicher Inkarnation trat laut Karmapa in Tibet der Rinpoche, also die Aufgabe, die von immer anderen Menschen als Hilfe auf dem Weg zum Bodhisattva fortgeführt wird.
Auch Mahayana blieb den Mönchen vorbehalten. Arbeit und weltliche Verantwortung wurden im Gegensatz zur Bhagavad Gita
der Reform des Hinduismus nicht als Wert verstanden. Die dritte Schule der Weisheit entstand in Zentralasien aus vier Komponenten: Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus und dem Sufismus des Islam im 9. Jahrhundert.