Schule des Rades

Sinnfeld Rad

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2. Zusammenhang

Welt als Idee

Aus diesem Grund kann Gabriel auch Kant, den er zum wichtigsten Vorreiter des Konstruktivismus erklärt, und Habermas, der Kants Weltbegriff weitgehend übernimmt, nicht folgen. Wie schon eingangs erwähnt, ist Kant für Gabriel deswegen Wegbereiter des Konstruktivismus, als dieser ja die Bedingungen für die Konstitution der Wirklichkeit völlig auf der Seite des menschlichen Erkenntnisvermögens verortet hat; selbst Raum und Zeit sind dem großen Aufklärer keine physikalische Realität, sondern die Formen unserer Anschauung. Jenseits unseres Erkenntnisapparates gäbe es laut Kant zwar etwas, doch das wäre die unerkennbare Wirklichkeit an sich.
Einerseits unerkennbar, weil ja transzendent, affiziert diese unerkennbare Wirklichkeit — das Ding an sich — uns andererseits doch irgendwie. Wir müssen sie als die jenseitige Ursache für unsere diesseitigen Empfindungen anerkennen. Denn gäbe es für uns nicht andauernd Berührung durch äußere Kräfte, hätten wir keine Empfindungen, Bewusstsein könnte so laut Kant gar nicht existieren, wir könnten gar nicht sein. Das aber, woher die Kräfte rühren, ist das unerkennbare Ding an sich. In der Kritik der reinen Vernunft hat es Kant einmal mit Gott gleichsetzt, und im Opus postumum spricht er vom allgegenwärtigem Äther, der auf uns wirkt. Doch wieso wissen wir davon, wenn es doch unerkennbar ist? Wieso kann man darüber reden? Die transzendente, niemals fassbare wahre Realität wird laut Kant für die reine Vernunft als transzendentales Ideal erkennbar (das dem das Denken übersteigenden Glauben angehört), und für den empirischen Verstand als transzendentale Idee (die man als Begriff mit anderen verknüpfen kann).

Für Kant ist also der Begriff Welt ein notwendiges Postulat der praktischen Vernunft. Insofern der Begriff ein vollständiges Ganzes, eine absolute Totalität, den Inbegriff existierender Dinge meint, ist ein solcher Begriff als eine Idee zu bezeichnen. Der Begriff Welt ist demnach eine regulative Idee, deren Notwendigkeit man vielleicht schon darin einsehen kann, dass wir doch schließlich über die eine, die gleiche, die gemeinsame Welt sprechen müssen, damit wir uns verstehen und damit wir gemeinsam Dinge verändern können. Ein gemeinsamer Blick auf die Wirklichkeit als ein zwischen den Weltansichten verschiedener Sprachen in der Mitte liegendes Gebiet ist eine notwendige Voraussetzung für sinnvolle Gespräche überhaupt. Für Gesprächspartner verbindet sich der Begriff der Wirklichkeit mit der regulativen Idee einer Summe alles Erkennbaren. (S. 65) Mit diesen Worten zitiert Gabriel den Diskurstheoretiker Jürgen Habermas, geht dabei aber nicht weiter auf die angesprochene notwendige Voraussetzung für sinnvolle Gespräche ein. Neben dem Vorwurf, Habermas knicke vor der Autorität der Naturwissenschaften ein und beschränke die Autorität der Philosophie auf einen kleinen Bezirk der Sprach- oder Diskursanalyse, welcher von der Naturwissenschaft nicht abgedeckt werden kann, kritisiert er auch seine mangelhafte Begründung des Weltbegriffs und seine Rede von der Totalität der Gegenstände.

Mit Kant landen wir bei der Welt als einer Idee, die für den Allzusammenhang steht, der zwar niemals als Ganzes erfahren werden kann, aber wirklich besteht und daher geglaubt werden darf, bzw. muss. Mit der SFO landen wir beim logischen Schluss, dass es keine Einheit gibt, dass alles zersplittert ist in unzählige Sinnfelder. Allerdings gibt es in der SFO auch die Vorstellung, dass sich manche Sinnfelder überlappen, was wohl dahingehend zu verstehen ist, dass strukturelle Gleichheit besteht, dass sie am gleichen Sinn teilhaben. Außerdem kann der Mensch Übergänge zwischen unverbundenen Sinnfeldern schaffen, also einen integrierenden Sinn erzeugen. Insgesamt und grundsätzlich gibt es aber keinen Weltzusammenhang, der sie umfängt, die Sinnfelder befinden sich mitten im Nichts, also letztlich nirgendwo. (S. 101)

Das Erkennen des Fehlens der gemeinsamen Welt muss man sich aber gar nicht durch mühsame Analysen erarbeiten, es ist eine alltägliche Erfahrung. Ich brauche nur aus einem völlig anderen Sinnfeld heraus zu sprechen als mein Nachbar, und schon sind wir vom Nichts und Nirgendwo getrennt, über das keine Brücke führt. Doch die Intention, sich in einer gemeinsamen Welt zu finden, glaubend eine gemeinsame Welt vorwegzunehmen, überschreitet das, wo für das logische Denken das Nichts und Nirgendwo beginnt. Der Sinnfeldontologe wird einwenden, dass unvereinbare Sinnfelder eben nicht zusammenhängen, von keiner gemeinsamen Welt umfangen werden, und im Falle der Menschen wäre die erfolgreiche Suche nach Gemeinsamkeit immer nur ein Wählen und Wechseln in ein anderes, gemeinsames Sinnfeld, oder das Schaffen eines solchen. Akzeptiert man das als eine zutreffende Beschreibung menschlicher Sinnschöpfung, bleibt aber immer noch die Frage offen, auf Grund welcher Kriterien die Wahl getroffen wird, bzw. welche elementaren Konstruktionswerkzeuge und -elemente dem Menschen zur Verfügung stehen.

Wie dem auch sei, auf jeden Fall kann mit einem Blick auf die heutige Lage der Menschheit festgestellt werden, dass es Gemeinsamkeit auf vielen Ebenen braucht, sonst sind die globalen Probleme nicht zu lösen. Gabriel verwirft aber nicht nur das Weltkonzept, die Vorstellung von Einheit und Ganzheit von allem, weil es logisch unmöglich ist. Er sucht auch nicht nach einem gemeinsamen Sinnfeld, das alle vom Menschen erkannten Sinnfelder unter einem Prinzip vereinigt. Ein solcher Reduktionismus, der auf einen Monismus hinausläuft, wäre nach dem bisher Gesagten ja unmöglich, da die verschiedenen Sinnfelder völlig unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Wohnzimmer Bauchschmerzen, Kosmologie und Bundeskanzleramt könne man ja unter keinem gemeinsamen Prinzip subsumieren. Allerdings bekennt er sich in der Talkshow Nachtlinie in einer Nebenbemerkung zum Universalismus, und seine Einsichten zu Existenz und Sinnfeldern will er sicher als universelle Wahrheiten verstanden wissen.

Doch auch schon die uneingeschränkte Anwendung des Begriffs Sinnfeld lässt einen darin ein durchgehendes, universelles Prinzip vermuten. Dem hält jedoch Gabriel entgegen, dass es falsch wäre, zu sagen Alles ist Sinnfelder bzw. grammatikalisch richtig, Sinnfelder sind alles, was es gibt. Warum nicht? Na, weil wir dann wieder Monisten wären und an einen unmöglichen Allzusammenhang glauben. Gabriel führt das Argument ins Feld: Es ist […] falsch, dass es irgendwas gibt, das alles ist. (S. 111) Denn das Wort Alles hätte keine Bedeutung. Sinnvolle Aussagen könnten sich nur auf ein abgegrenztes Etwas beziehen. (Was aber bedeutet, dass man durchaus sagen kann, Alle Menschen haben die und die Eigenschaft oder Alle Sterne sind so und so beschaffen). Aber man kann nicht sagen Alles ist so und so beschaffen. Denn dann gäbe es wiederum ein allerallgemeinstes Qualitätskriterium, einen allerallgemeinsten Begriff, und dann hätten wir uns schon wieder die Welt eingehandelt, die es ja nicht gibt…

Zurückweisungen der von Gabriel behaupteten Nicht-Existenz der Welt haben natürlich nicht lange auf sich warten lassen. In einer Entgegnung im Web meint etwa der Sprachphilosoph und Wittgenstein-Kenner Ernst Michael Lange, In unserer Sprache drückt der Ausdruck Welt einen formalen Begriff aus und die Frage nach der Existenz eines formalen Begriffs ist sinnlos, weil ein solcher mit jeder seiner Instanzen bereits gegeben ist. Der Begriff Welt hat aber gewiss eine Instanz: Wir reden von der Wirklichkeit, in der wir leben, als Welt, sprechen davon (auch der Autor tut das), auf der Welt oder in der Welt zu sein und geben damit etwas zu verstehen. E. M. Lange teilt die Auffassung Kants und Wittgensteins, dass der Philosoph nur gegebene Begriffe deutlich zu machen hat, weswegen man eine Begründung der Nicht-Existenz der Welt nicht einmal zur Kenntnis nehmen müsste. Er nimmt sie dennoch zur Kenntnis und meint, dass wenn selbst Gabriel nicht umhin kommt, von der Welt zu reden — und das nicht nur im verneinenden Kontext — dann spricht er bei der Verneinung der Welt nicht unsere Sprache bzw. müsse er etwas meinen, das nicht von dieser Welt ist. Letztlich könne daher die Rede von der Nicht-Existenz der Welt nichts anderes meinen, als dass die Welt eben kein Gegenstand ist wie jeder andere. Man kann auf sie nicht hinweisen, wie man auf einen Tisch hinweist. Das bedeute aber nicht, dass es sie nicht gibt. Lange widerspricht auch Gabriels Behauptung der Begriff Alles würde nichts bedeuten. Denn —, so Lange — Alles bedeutet eben (gibt zu verstehen) die Welt: Alle Einzelheiten aller Allgemeinheiten aller Bereiche, die es gibt.

Gabriel spricht anlässlich eines Vortrags in einem Bonner Buchladen von der gierigen Tatsachentheorie, einer Theorie, die sich ihren Gegenstand gemäß den eigenen Begierden, Interessen, Wünschen oder nützlichen Vorurteilen zurechtbiegt. Ein solches Verhalten ist uns ja sehr vertraut und allzu menschlich, und jeder (falls er den Wahrheitsbegriff nicht schon entsorgt hat) wird bestätigen, dass uns unsere Begierden von der wahrheitsgemäßen Erkenntnis ablenken können. Man muss daher tatsächlich fragen, was wir da eigentlich tun, wenn wir die Welt als ein Ganzes voraussetzen, zumal wir sie ja niemals in den Griff, niemals in den Blick bekommen. Erträumen wir uns da bloß einen Weltzusammenhang, ist also bloß der Wunsch der Vater des Gedankens? Was für den Sinnfeldontologen wie ein unerlaubter Winkelzug erscheint und ein Weiterdenken wider bessere Logik, ist eigentlich eine Entscheidung, ein Wollen. Auch wenn das Denken sagt, es gibt die Welt nicht, kann das Wollen sie meinen. Ist dieses Gemeinte aber Wirklichkeit?

Sinnfeld Rad
Schule des Rades · 2015
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