Schule des Rades

Sinnfeld Rad

Schule des Rades

4. Wesen

Wer bin ich?

Am Anfang der Rad-Philosophie steht nicht die Unterscheidung von Innen und Außen, sondern die von Nichts und Etwas. Objektiv ist das Nichts der formlose, schöpferische Urgrund, und das Etwas die Vielfalt der kosmischen Strukturen. Subjektiv ist das Nichts das leere Gewahrsein, und das Etwas die vielfältigen Inhalte des Bewusstseins — von einfacher Natur bei Wesen auf niedriger Evolutionsstufe, von komplexer Natur bei solchen auf höherer, wie das Ich-Bewusstsein beim Menschen. Im Bewusstsein unterscheiden sich also alle Wesen voneinander, denn es existiert auf verschiedensten Entwicklungsstufen. Dieses Bewusstsein ist jenes, von dem die Naturwissenschaft richtig erkannt hat, dass es sich im Laufe der Evolution entwickelt hat, und es ist jenes, das dekonsruierbar ist. In ihrem Selbst-Sein, das wir beim Menschen als Gewahrsein bezeichnen, sind aber alle Wesen gleich. Gewahrsein ist kein spätes Produkt der Evolution, sondern vom Anfang an da — schon mit dem Erscheinen des ersten Quantums.

Wie die Rede vom Nichts geführt wird, zeigt also einen entscheidenden Unterschied zwischen SFO und Rad. Wenn Gabriel meint, die Sinnfelder befinden sich mitten im Nichts, also letztlich nirgendwo (S. 101), ist dieses Nichts der von ihm behauptete fehlende Zusammenhang von allem. Im Rad hingegen ist es der Ursprung aller Existenz, und die Leere des Gewahrseins unsere Teilhabe an diesem.
Die Identifikation des Nichts mit der Leere des Gewahrseins gleicht jener, die man bei Meister Eckhart, im Buddhismus und im Hinduismus findet. Keyserling betrachtete etwa Ramana Maharshi — einen der bedeutendsten indischen Weisen des 20. Jahrhunderts und Vertreter des Advaita Vedanta, der Lehre von der Nicht-Zweiheit — als einen seiner geistigen Lehrer. Dieser hat bekanntlich die Frage Wer bin ich? zur einzig bedeutsamen geistigen Übung erklärt. Hier gibt es also sogar eine Ähnlichkeit mit Gabriels existenzialistischer Erforschung des Selbstbewusstseins. Doch während der indische Weise damit das Vernichten aller falschen Identifikationen und die schlussendliche Identifikation mit dem großen Einen, dem höchsten göttliche Selbst anpeilt, jenseits aller Gezweiung, sind für Gabriel alle Einheitsvisionen suspekt.

Aber auch Keyserlings Ansatz hat nicht die buddhistische Leere oder die Realisierung der Nicht-Zweiheit des Advaita zum ausschließlichen Ziel. Neben der Frage Wer bin ich? ist bei ihm auch die Frage Was bin ich? von zentraler Bedeutung. Wenn mit dem Wer der ungreifbare Grund des Selbst-Seins gemeint ist, meint das Was das beschreibbare Ich. Abweichend von vielen Traditionen, in denen das partikuläre Ich als Wurzel allen Übels betrachtet wird, soll bewusst an der Entfaltung des Ich gearbeitet werden. Aufgeben soll man immer wieder nur das falsche, statische und verhärtete Ichbild — gemeinhin moralisch wertend als Ego bezeichnet — nicht aber die Möglichkeit eines Ich als solchem. Jeder Mensch soll sein partikuläres Ich-Sein bejahen, welches ihn handelnd ein besonderes Wesen zu bilden befähigt, ein Wesen, dass potentiell jeder als Anlage mitbringt. Diese Anlage ist etwas, das es ohne diesen Menschen in der Welt nicht gäbe. Wird sie verwirklicht, vermehrt sie den Reichtum der Wirklichkeit und erfüllt einen besonderen Sinn im Ganzen.

Alles Erreichte und zum Wissen Gewordenen läuft aber Gefahr, durch anhaftende Identifikation zu besagtem statischen Ich-Bild zu werden. Doch die eigentliche Dimension des Ich ist die Zeit, es ist dynamisch, es muss immer wieder sterben und auferstehen, wozu uns übrigens das Leben mit seinen Lektionen genug Gelegenheit bietet. Alles Scheitern kann uns aus verhärtetem Stolz befreien — aber auch noch tiefer verstricken. Denn genauso, wie wir uns mit Erfolgen identifizieren, genauso halten wir auch am Erlittenen fest, und wir definieren uns als Opfer der Umstände, der Gesellschaft oder der Eltern. Eine wirkliche Desidentifikation, die zur lebendigen Offenheit führt, kann nur gelingen, wenn man sich dauerhaft bemüht, zum Selbst-Gewahrsein zu erwachen, zu unserer Teilhabe am Urgrund des Nichts. In diesem Sinne wollen wir auch Ulrich von Hutten verstehen, wenn er sagt: Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt.

Üblicherweise sind wir im — oft unglücklichen — Bewusstsein, in einem verhärteten Ich-Bild, nicht im Gewahrsein, das frei von Verstrickungen und offen für neuen Sinn ist. Alle meditativen Wege versuchen daher dieses Gewahrsein, das Zeugenbewusstsein, wie es traditionell manchmal genannt wird, zu erwecken. Über diesen Zeugen meinte Keyserling, er müsse zum Täter werden. Und das Erreichen des Gewahrseins ist bei ihm weniger konzipiert als das Realisieren der einmaligen großen Erfahrung, der endgültigen Erleuchtung, sondern als das Erleben der sinnvollen Fügungen in der Fülle der Ereignisse, welche die Zeit hervorbringt. Die Vielheit soll nicht auf die Einheit reduziert werden, aber ein — manchmal unsagbarer — Sinn, den wir erreichen, wenn wir zum Gewahrsein durchstoßen, fügt immer wieder alles zu einem einzigen, sinnvollen Zusammenhang.

Das einzig dauerhafte Subjekt ist also ein Nichts, die Leere unseres Gewahrseins. Sind es viele, oder doch nur eines? Es ist eines, da sich die Nichtigkeit in jedem gleicht. Aber offenkundig erscheint die Wirklichkeit als Vielheit, was Gabriel nur diese als letzte Realität behaupten und jeden Monismus verwerfen lässt. Im Rad wird aber in diesem Widerspruch durch die Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Gewahrsein vermittelt. Es gibt nur ein Gewahrsein, aber viele Formen von Bewusstsein, weil das Gewahrsein mannigfaltiger Identifikationen fähig ist.

Dass die Welt viele sind, und dass die Welt eine ist, ist ein Widerspruch, der uns aber nicht dazu zwingt, eins davon als Illusion oder Täuschung abzutun. Was erscheint, ist vielfältig geteilt, und jedes muss in seiner Eigengesetzlichkeit respektiert werden, was für die SFO selbstverständlich ist. Und dass die Welt eine ist, ist für sie schlicht falsch. Hermetisch gedacht ist die Einheit der Welt aber auch eine Wahrheit, die sich jedoch nur erschließt, wenn das Gewahrsein erreicht ist. Im Theravada-Buddhismus wird die Realität des Individuierten, Vereinzelten, also der Vielen, verneint. Die Einzeldinge oder Einzelwesen haben keine Eigenständigkeit, sondern können nur in gegenseitiger Abhängigkeit entstehen und bestehen (pratītya-samutpāda) — es gibt den Sohn nicht ohne den Vater, und umgekehrt, und keinen Tag ohne Nacht, keine Freude ohne Leid. Im Mahayana-Buddhismus wiederum gilt die Leere als die letzte Realität, wenn die Verstrickungen des Samsara überwunden sind und das Nirvana erreicht ist. Ist dann also das Individuierte, das Einzelsein, die Vielen endgültig als Illusion abzutun? Auch wenn man die zentrale buddhistische Lehre vom bedingten Entstehen einsieht, muss einen das nicht zwangsläufig die vielfältige Welt fliehen lassen. Denn schließlich ist auch das Gelübde jedes Bodhisattvas, nämlich solange nicht ins Nirvana eingehen zu wollen, und zu helfen, bis alle Wesen erlöst sind, eine indirekte Bejahung der Einzelwesen, ja letztlich eine Bejahung des Verbleibs im Kreislauf der Wiedergeburten, des Samsara. Im Dzogchen-Buddhismus schließlich wird erkannt, dass Samsara und Nirvana identisch sind. Im Lichte all dessen relativiert sich vielleicht auch Buddhas erste heilige Wahrheit, dass alles Leben Leid ist: Nicht das Leben in der Welt ist per se leidvoll, sondern illusionäre Vorstellungen darüber, wer wir im tiefsten Grunde sind.

Sinnfeld Rad
Schule des Rades · 2015
4. Wesen
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