Schule des Rades
Sinnfeld Rad
Schule des Rades
4. Wesen
Gewahrsein im Achterkreis
Die Wirklichkeit, das sind die Vielen. Und eine andere Wirklichkeit ist die Welt als Eines. Wer beides kennt, ist ein vereinzeltes Ich und zugleich Subjekt in der Mitte des Einen, sein wahres Selbst, zu dem das Ich strebt. Dieses Vereinigungsstreben gebiert das einzigartige Wesen, das wir in der Zeit werden. Am Ende dieses Kapitels werden wir uns dieser dreifältigen Subjektivität widmen, vorerst aber der epistemologischen Grundstruktur des Rades, dem achtfältigen Kreis des Bewusstseins, ohne ausführlich auf die dazugehörige Zahlen- und Dimensionstheorie des Rades einzugehen.
Für Leibniz, den einzigen Metaphysiker, dem Gabriel Recht gibt, sind die Vielen die Monaden, also subjekthafte Entitäten, die das Sein bevölkern. Für Gabriel sind es die vielen Welten oder Sinnfelder, ohne durchgehenden Zusammenhang. Auch in der Radphilosophie gilt, dass die Grundlage der Welt monadische Einheiten sind, allerdings wird ein alldurchdringender Zusammenhang zwischen ihnen angenommen, nämlich die Identität der Gewahrseinseinheiten, die wir im Folgenden als Gewahrseinspunkte bezeichnen. Letzter Grund der Wirklichkeit sind hier also nicht Sinnfelder, vielmehr Subjekte. In wie einfachen oder komplexen Sinnfeldern sich diese finden, ist eine Frage der Zeit: des Zeitpunkts im (alltäglichen) Lebensprozess, und der Evolutionsstufe im historischen Prozess.
Nimmt man also eine Subjekthaftigkeit des Menschen an, die einerseits ein einzelnes und einzigartiges Ich, andererseits im alldurchdringenden Nichts verwurzelt ist, stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen diesen beiden Polen — also wie das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gewahrsein, zwischen Ich und Sinn, zwischen Beobachter und Erscheinung aussieht. Die SFO sieht bei solchem Theoretisieren nur die Gefahr, dass der Mensch beginnt, die Welt in einer verfälschenden Weise zu verdoppeln und Hinterwelten
zu konstruieren. Keyserling hingegen sah in den bedeutungsleeren Grundstrukturen der Mathematik eine Möglichkeit, die Beziehung zwischen Ich und Sinn, zwischen Bewusstsein und Gewahrsein zu erfassen, in deren Spannungsfeld sich ein Wesen entfaltet.
Zu den mathematischen Anfangsgründen des Rades gehört der erwähnte Achterkreis des Bewusstseins, der zeigt, welche sieben grundlegenden Inhalte dem Gewahrsein zum Bewusstsein werden können. Auf der Basis von acht Rechnungsweisen — was an dieser Stelle nicht weiter erläutert werden soll — werden acht epistemologischen Grundkonstanten konzipiert, die in einem Kreis von vier Raum- und vier Zeitdimensionen ihre Darstellung finden. Die nullte Dimension ist die Zeit des ausdehnungslosen Augenblicks, das leere Gewahrsein, das Vermögen (sich) zu identifizieren. Es ist dies unser eigentliches Subjekt. Nur im Durchschauen aller Bewusstseinsinhalte bis zur Leere ist es bewusst präsent. Welche Inhalte aber werden ihm bewusst, wessen kann es gewahr werden? Es handelt sich dabei um
- Empfinden: die Sinnesdaten — tasten, riechen, schmecken, hören, sehen
- Denken: die Sprache — Definitionen, Abstraktionen und Simulationen der Wirklichkeit
- Fühlen: die Emotionen — Triebe, Wünsche, und Bewertungen nach Lust und Leid
- Wollen: das Richten der Aufmerksamkeit — die Fähigkeit zu wählen, zu entscheiden und sich zu entschließen, die Kraft, Ja und Nein zu sagen. (Erst der Wollende kommt in der Wirklichkeit an, im Erleben der sinnvollen Fügungen.)
Diese vier Bewusstseinsfunktionen vollziehen sich immer in einem der drei Bewusstseinsbereiche:
- Körper: die Objekte — einschließlich des eigenen Leibes mit seiner besonderen Anlage
- Seele: die sozialen Beziehungen — die Auseinandersetzung mit dem Du und mit dem eigenen biographischen Ich
- Geist: das Imaginale — die Welt der Ur-Bilder, Ideen und Ideale, die inspirieren und begeistern und die Vision des eigenen geistigen Weges entstehen lassen.
Diese achtfältige Struktur zeigt das leere Gewahrsein als Adressaten aller Bewusstseinsinhalte, welches aber auch als ihr Ursprung verstanden werden muss, so wie die Leere der Ursprung aller kosmischen Erscheinungen überhaupt ist. Doch das eigentliche Feld, in dem der Mensch als historisches und biographisches Ich, als gesonderte und besondere Individualität Sinn oder Sinnlosigkeit seines Lebens erfährt, ist die komplexe synthetische Struktur, die sich aus der Kombination der vier Funktionen mit den drei Bereichen zu den zwölf raum-zeitliche Sphären des Tierkreises ergibt. Er bildet das zentrale Konzept bei der Frage nach dem Sinn des Lebens, sowohl historisch-kollektiv, als auch biographisch-individuell.
Buchstäblich alle Bewusstseinsinhalte entstammen diesem Feld, somit jedes Ich, als das ich mich im Laufe eines Tages und im Laufe meines ganzen Lebens identifiziere. Dieses Ich ist sterblich und unfrei, solange es nicht das Göttliche als Gegenüber erkennt, sein wahres Selbst, das dem Alltagsbewusstsein entzogen ist. Erst in der Vereinigung von Ich und Selbst kommt der Mensch zu seiner wahren Bestimmung, zur Bildung seines einzigartigen Wesens, welches Teil des göttlichen Leibes, der Welt, Teil des werdenden Gottes ist.