Schule des Rades

Sinnfeld Rad

Schule des Rades

1. Wirklichkeit

Realismus contra Konstruktivismus

Mit dem amerikanischen Philosophen Theodore Sider ist sich Gabriel einig, dass der Realismus eine allgemeine Behauptung ist, die darin besteht, dass es Strukturen gibt. Sider spricht ironisierend vom hirnlosen Reflexrealismus, da die Anerkennung dieses sogenannten Strukturenrealismus ja so selbstverständlich sein sollte, dass nicht einzusehen ist, wie man daran überhaupt zweifeln kann. Bloßes Pochen auf die Selbstverständlichkeit der Existenz realer Strukturen beruht allerdings nicht weniger auf bloßer Annahme, als die Überzeugung, dass der Mensch seine Wirklichkeit konstruiert.

Für Gabriel ist die Existenz von unendlich vielen Sinnfeldern die ultimative Realität, jeden Augenblick befinden wir uns in einem solchen, bzw. können zwischen ihnen wechseln. Aber sind denn diese unendlich vielen Sinnfelder der Neuen Realisten weniger eine Quelle der Beliebigkeit, als es die unendlich vielen möglichen Konstruktionen der Konstruktivisten sind? Man kann sich an der Unendlichkeit des einen wie des anderen berauschen. Zu einer größeren Sicherheit in der Erkenntnis bringt mich die Überzeugung, dass alles irgendwie wahr ist (weil ja alles Sinnfelder sind), genauso wenig, wie die Überzeugung, dass es die Wahrheit gar nicht gibt (weil es keine Realität gibt). Geht es denn um Gewissheit und Sicherheit? Gewiss, wenn es einem um Erkenntnis geht. Im Konstruktivismus kann es aber überhaupt nicht um Erkenntnis und Irrtum gehen, somit niemals um Wahrheit, sondern nur um Konstruktionen, die besser oder schlechter zu anderen Konstruktionen passen. Am drastischsten drückt diese Ablehnung des Wahrheitsbegriffs wohl ein Buchtitel des radikalen Konstruktivisten Heinz von Foerster aus: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Von Realität wird der Konstruktivist daher nicht sprechen, sondern nur von verschiedenen Realitätsentwürfen. Und von Erkenntnis kann man nur sprechen, wenn man auch eine objektive, zumindest intersubjektive Realität anerkennt. Die SFO tut dies in höchstem Maße, als sie objektive, für-sich-seiende Sinnfelder annimmt, die man — Täuschungen vorbehalten — prinzipiell erkennen kann. (Außer denen, die in alle Ewigkeit nicht in unserem Bewusstseinskreis erscheinen werden, die laut SFO aber auch existieren.) Wahrheit gibt es also in allen Sinnfeldern zu erkennen, und da es Gabriel um wahrheitsgemäße Erkenntnis geht, meint er sich auf die Seite des Realismus schlagen zu müssen, und möchte dem konstruktivistischen Spuk ein Ende bereiten.

Über weite Strecken ist daher das Buch von Gabriel als Kampfschrift wider den heute allgegenwärtigen Konstruktivismus zu lesen, von dem er meint, er wäre absurd, er wird meist aber nicht durchschaut (S. 156). Im Wesentlichen gelingt ihm die Zurückweisung durch den eigentlich einfach einsehbaren Umstand, dass auch der Konstruktivist irgendwann in seiner Argumentation auf Gegebenheiten zurückgreifen muss, die nicht konstruiert sind. Man kann hier Gabriel nur Recht geben. Zwar kann sich der Konstruktivismus heute sogar von materialistischer Seite bestätigt fühlen, da die Gehirnforschung immer besser zeigen kann, wie unsere erlebte Wirklichkeit vom Gehirn konstruiert wird. Will man aber mit aller Konsequenz das Gehirn als materiellen Forschungsgegenstand dann auch noch als eine bloße Konstruktion unseres Gehirns begreifen, wird die argumentative Bodenlosigkeit des Konstruktivismus wohl doch offenbar. Man kann wohl selbst Materialität zu einer Konstruktion erklären. Doch den Konstrukteur, das Konstruierte und das Konstruieren allesamt auch noch als unsere Konstruktionen zu begreifen, geht dann doch zu weit. Irgendetwas davon muss immer als vor aller Konstruktion bestehend angenommen werden.

Gabriel weist aber nicht nur die Position zurück, die meint, es gäbe nur die vielen Wirklichkeiten der Zuschauer, aber keine objektive, beobachterunabhängige Wirklichkeit. Ebenso lehnt er die andere erkenntnistheoretische Extremposition ab, die klassische Metaphysik, für die Realität nur das ist, was von den Beobachtern unberührt ist, nämlich die Realität an sich. Gemäß dieser metaphysischen Auffassung sind unsere Wahrnehmungen nur subjektive Verzerrungen der Wirklichkeit. So war noch Galilei der Überzeugung, Farben etwa wären keine Eigenschaft der objektiven Realität, sondern Illusionen des Beobachters. Kant ging bekanntlich ebenfalls von der Existenz einer beobachterunabhängigen Realität an sich aus, doch seiner Überzeugung nach können wir von dieser nichts wissen. Nur die Erscheinung, also das, was sich von dieser Realität an sich unserer Wahrnehmung darstellt, ist für uns erkennbar. Er konzentrierte sich daher auf die Bedingungen unserer Wahrnehmung und Erkenntnis, also wie das erkennende Subjekt die Gegenstände konstituiert. Damit gehört für Gabriel auch Kant zu den Konstruktivisten.

Am Beispiel des Vesuvs, der von mehreren Beobachterpositionen gesehen wird, demonstriert uns Gabriel seine neue Realitätsauffassung: der Vesuv — ohne Betrachter — ist eine vorhandene Realität an sich, zugleich aber sind die vielen möglichen Betrachtungsweisen und -perspektiven der vielen Beobachter ebenfalls objektive Realitäten an sich, und nicht vom erkennenden Subjekt konstituiert oder konstruiert. Was Gabriel nicht explizit hervorkehrt, was sich aber logisch ergibt, ist der Umstand, dass dann der Vesuv an sich etwas ist, was niemals von jemandem gesehen wird. Darin unterscheidet sich dieser Vesuv aber kaum von Kants unerkennbarem Ding an sich, wenngleich Gabriel den Eindruck zu vermitteln scheint, es wäre klar, was der Vesuv an sich ist. Wie dem auch sei, etwas verkürzt lässt sich auf jeden Fall sagen, dass im Neuen Realismus nicht objektiv als real, und subjektiv als irreal gilt, sondern dass beides zur Realität gehört.

Sinnfeld Rad
Schule des Rades · 2015
1. Wirklichkeit
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