Schule des Rades
Arnold Keyserling
Bewusstsein im Sog der Evolution
Wandlung des Bewusstseins
Wir leben in einer Periode der Überfülle des Wissens. Sobald wir aber nach den Faktoren der Verwirklichung ausschauen, nach dem Grad der Verantwortlichkeit von Menschen, nach einer Beziehung zwischen persönlicher Entfaltung und objektiver Bewährung, so zeigt sich das Wissen in der Art eines immensen Lexikons; mit dem Unterschied, dass ein Lexikon mindestens die Ordnung des Alphabets besitzt, während die Summe des heutigen Wissens eine durchaus ungeordnete Menge darstellt. Dabei ist die Fülle des Wissens und der Information nur ein Aspekt der generellen Fülle: zusätzlich gibt es die Menge der Angebote im wirtschaftlichen Bereich, die Menge der Ideologien im geistigen, die Menge der Gestaltungen im technischen und künstlerischen, und die Menge der Emotionen im zwischenmenschlichen Bereich.
Kein Wunder, dass in einer solchen Zeit die Philosophie in die vier Grundrichtungen der Sophisten zurückfällt:
- in nihilistische Skepsis, die jede systematische Erklärung als Willen zur Vergewaltigung verdächtigt;
- in den historischen Eklektizismus, der sich aus beliebigen Ingredienzen seine persönliche Anschauung zusammenkocht;
- in den zur Ethik auffrisierten Moralismus, der die moralische Ordnung von der intellektuellen trennen möchte,
- und schließlich in den Individualismus, erhärtet durch das allgemeine Lippenbekenntnis zur Demokratie, der die Welt im Maß des Durchschnitts betrachtet und jegliches geistige Streben sei es als Egotrip, sei es als persönliche Idiosynkrasie entwertet.
Eine Dichotomie ist durch den Gegensatz zwischen Ideologie und Naturwissenschaft gegeben, wobei die letztere den Anschein hat, wirkliches Wissen zu vermitteln, während in der Meinungsbildung der ersteren die persönliche Lebensgestaltung angesiedelt wird, es sei denn eine Gesellschaft nehme eine bestimmte Ideologie als verpflichtend an. Doch zu dieser Spaltung der Wirklichkeit tritt eine weitere, dem Bewusstsein sind noch andere Bereiche zugänglich, solche, die bis vor kurzem von der Naturwissenschaft zum Aberglauben gerechnet wurden; jene Zustände, die sich mittels Drogen in gleicher bzw. ähnlicher Erscheinungsform bei jedem induzieren lassen, der das Wagnis möglichen Ichverlusts auf sich nimmt. Ferner zeigen jüngste Forschungen der Anthropologie, dass diese Erfahrungen nicht rein phänomenologisch, als Inhalte bestimmbar sind, sondern dass sich in ihrem Bereich Stufen und Wege abzeichnen, die zu 9 verschiedenen Lebensgestaltungen, ja Graden tatsächlicher Verantwortung führen können — womit das frühere hierarchische Weltbild eine gewisse Rechtfertigung erfährt, wenn auch die Vielzahl möglicher Ausprägungen den Absolutheitsanspruch der Religionen stark erschüttert hat.
Hierzu tritt die Tatsache, dass das Weltbild eines Menschen in hohem Maße von der unterbewussten Struktur seiner Sprache abhängig ist, deren Vielzahl jener der biologischen Arten zu entsprechen scheint: während die Regeln der Kommunikation, der Grammatik und Syntax sich auf mathematische Urmodelle zurückführen lassen, ist der möglichen Wurzelverwandtschaft von Worten, die unterbewusst die Assoziationen steuert, keine Grenze gesetzt. Ganze Philosophien lassen sich auf zufälligen Wortassoziationen aufbauen, wie Hegel und Heidegger, aber auch die jüdischen Kabbalisten gezeigt haben. Schließlich bietet sich das biologische Modell zur Erklärung an: da der menschliche Organismus sich zweifellos aus dem tierischen entwickelt hat, liegt es nahe, auch ihn als Tier zu sehen und aus der Fauna mögliche Leitbilder für ein wirklichkeitsgemäßes Verhalten zu finden.
Damit ist die paradoxe Lage der Gegenwart nicht erschöpft: tausende vulgärwissenschaftliche Publikationen bemühen sich gleichzeitig, die Illusion eines klaren Wissens, einer heilen Welt
zu vermitteln. Die technische Zivilisation ist nun mal auf dem Denken aufgebaut, und ohne ein gewisses Maß an Klarheit kann das Denken nicht bestehen. Aber wie schon Kant gezeigt hat, ist zwischen denkerischer Gesetzmäßigkeit und empirischer Wirklichkeit ein Sprung:
alle existentiellen Ansätze sind metalogisch, lassen sich nicht begründen. Auch der existentialistischeacte gratuitist kein Ausweg; er beschreibt nur die Lage eines unglücklichen Bewusstseins, das durch keinerlei soziologische Manipulation zu erlösen ist.
Hierzu tritt eine neue Prophetie des jüngsten Gerichts, die sich nicht mehr moralisch, sondern ökologisch gebärdet: ziehe man die technischen Entwicklungslinien unter Einschluss der Vermehrung der Menschenmenge auf der Erde logisch bis zum Ende durch, so werde die menschliche Existenz in wenigen hundert Jahren unmöglich werden, alle Versuche durch Umweltschutz und dergleichen die Katastrophe zu steuern, erwiesen sich als unsinnig. Wie der Club of Rome gleichsinnig mit anderen gelehrten Gremien verkündet, verlangt die heutige Lage eine mehr als kopernikanische Wandlung des Bewusstseins: nicht einen Teil der Existenz, sondern deren Gesamtheit gilt es neu zu überdenken.
Wo kann aber eine solche Wandlung ansetzen? Im Bereich der Ideologien gewiss nicht. Sie kann nur von jenen Einzelnen anheben, die sich selbst umstellen; die aus einer ideologischen Weltsicht zu einer Lebensweise überwechseln, die sowohl im Einklang mit der natürlichen Evolution als auch der Persönlichkeitsgestaltung wäre. Damit erhält die Philosophie wieder einmal in der Geschichte die entscheidende Rolle; aber nicht jene akademische diskursive Philosophie, die sich heute ähnlich als Magd der Wissenschaft versteht wie die mittelalterliche als Magd der Theologie, und die Ideologien noch um einige persönliche, im Weg des Lehrstuhls fortgepflanzte Varianten bereichert,
sondern jene pythagoräische, in der sich der Intention nach subjektive und objektive Wahrheit, persönliche Rückbindung an das Universum bis auf seinen unerschöpflichen Quell, und systematische, bis auf die letzten Gründe zurückreichende Klärung, zu einem neuen Bewusstsein zusammenschließen.
Pythagoräische Philosophie ist ihrer Intention nach archaisch: es gilt die Probleme so anzugehen, als ob nie jemand eine Lösung vorgeschlagen hätte. In dieser Lage befindet sich jeder Mensch, der zu seinem Wesen durchstoßen will. Echtes Wesen wäre spontan; spontan heißt frei ohne Ursache. Mit Anerkennung einer Ursache ist die Spontaneität vertan; nur die Nicht-Ursache kann den Weg eröffnen. Somit gilt es als erstes, das Bewusstsein — wenn wir dieses Wort fortan als die Vereinigung von Subjekt und Wirklichkeit, Sein und Wissen gebrauchen wollen — im Nichts zu verankern, und uns auf eine Reise zu begeben; eine innere Reise, die uns zur existentiellen Wahrheit führen könnte.
Es gibt keinen abstrakten Menschen; es gibt keine abstrakte Wirklichkeit. Das Denken dient dazu, sich in der Wirklichkeit zu orientieren, nicht aber diese zu ersetzen. So ist unsere Voraussetzung die tatsächliche Welt: das unendliche Universum — bzw. wenn man unser All als eines der existierenden annimmt, deren unendliche Menge.