Schule des Rades

Arnold Keyserling

Bewusstsein im Sog der Evolution

Vier Gefahren des Verfallens

Seele kennzeichnet die Person des Menschen in der Zeit. Diese Person ist nicht notwendig präsent: sie wird nur in der Bewährung zum Träger.

Be-Währen bedeutet, die Kontinuität der Zeit zu verwirklichen, die Bewusstseinsstadien zu vereinen. Im Körper geschieht dies durch Erreichen der inneren Stille; in der Seele durch Verantwortung: verantworten für alles was man tut und was einem zustößt. Um zu verantworten und sich zu bewähren, muss aber etwas dasein, worin man sich bewähren kann. Wenn die Seele im Kind erwacht, ist sie sich zuerst keiner Problematik bewusst. Sie erlebt sich im persönlichen Gefüge der Eltern, und wenn deren Beziehungen ein Kraftfeld darstellen, ruht sie in sich selbst.

Hier kommt nun die erste Klippe: die Unschuld der Seele ist nicht aufrecht zu erhalten. Der Mensch muss in die Welt: sei es, dass er sein Dharma, seine persönliche Pflicht erkennt und auf sich nimmt, wie es die Bhagavad Gita schildert, sei es, dass der Verlust des Paradieses als Erbsünde erlebt wird, sei es, dass die Verzweiflung, die Gezweiung des Wesens zum Ansatz wird.

Die vier Bewusstseinsstufen werden zu vier Gefahren des Verfallens.

  • Im Wachen erfreut sich der Mensch an der schönen sinnlichen Wirklichkeit, möchte ganz in ihr bleiben. Aber jede Zeit des Schönen wechselt mit einer anderen der Trauer und wenn er nicht Trauer und Freude als Teile einer Melodie versteht im Sinne von Eulenspiegel — der sich beim Besteigen eines Berges freut, weil es nachher wieder hinunter geht, und trauert beim Hinuntergehen, weil ihn nachher wieder der beschwerliche Aufstieg erwartet — für den besteht das Leben aus losgelösten Perioden des Frohsinns und Verfallenheit in Trauer; wenn sich dieser Zustand verhärtet, führt er in die Depression. Man kann ihr entrinnen, wenn man die Abläufe einbezieht — indem man sich im Denken Pläne des Überbrückens zurechtmacht, sich Methoden und Systemen anvertraut. Damit gewinnt man einen festen Stand in der Wirklichkeit, die Angst wird überwunden und an ihre Stelle tritt ein klares Wissen, wie man sich verhalten soll.
  • Doch dieses Wissen ist letztlich nur eine Hilfe des Gedächtnisses. Die Methoden schließen die eigene Anlage nicht ein. So wandelt sich die anfängliche Sicherheit bald in Zwangsvorstellungen, die bis zur Paranoia gehen können. Die Angst wird um jeden Preis durch Riten gebannt, und die eigene Triebkraft, die Neues aus der Traumwelt zu verkörpern sucht, wird hysterisch auf andere als Aggression, als Feindschaft projiziert. Im Kampf gegen diese Projektionen reibt sich die Seele auf, sie verhärtet sich im selbstgeschaffenen ideologischen Gefängnis, das zwar nicht wohnlicher ist als die stumme Trauer des Depressiven, aber den scheinbaren Vorzug hat, dass man es mit vielen anderen teilt.
  • Aus dem Denkgefängnis bricht man aus, wenn man beginnt, sich für die eigenen Triebe verantwortlich zu wissen, Träume ernst zu nehmen. Aber die Traumwelt hat ihre eigene Dynamik, und so kann leicht bei schwierigen Umständen der Tagtraum die Wirklichkeit bis zu deren endgültigem Verlust verdrängen; ein Scheinleben, eine Scheinexistenz mythischer oder hysterischer Verbrämung ergänzt den äußeren Leerlauf.
  • Diese Gefahr überwindet der nächste Schritt als tiefere Schicht: die eigene Potentialität, die das Handeln im geschichtlichen Sinne verlangt und als Auftrag erlebt wird. Jeder ist innerlich berufen eine Erfüllung zu finden, zu wollen und zu entscheiden, in dem Bereich wo seine Spontaneität zum Tragen kommt. Diese Potentialität ist durch die Todes- und Schlafschwelle von der gewöhnlichen Existenz getrennt: nur der Mut kann sie überwinden. Bricht der mythische Bereich des Wollens auf, ohne dass die Kraft zur Entscheidung besteht, dann wird der Mensch an der Wirklichkeit enttäuscht, schafft sich eine Scheinwelt und verschließt sich in sich selbst; er wird autistisch und gespalten, bis seine Seele im Dämmerzustand des Schizophrenen versinkt.

Die mythischen Kulturen hielten die vier Verfallenheiten für Besessenheit, bei Paracelsus durch Gnomen, Undinen, Sylphiden und Salamander: die Erd-, Wasser-, Luft- und Feuergeister. Da die Seele Person ist, wird sie die Gefahren personifiziert erleben;

  • im Empfinden als Räuber günstiger Lebensumstände,
  • im Denken als Manipuliertsein durch äußeren Zwang,
  • im Fühlen als Personifizierung der Aggressivität in Anderen, mit welchen man im Kampf die Erlösung sucht, wie in Zeiten der kollektiven Hysterie eines Krieges,
  • und im Wollen in religiösen Wahnvorstellungen der Auserwähltheit.
Arnold Keyserling
Bewusstsein im Sog der Evolution · 1972
Vier Gefahren des Verfallens
© 1998- Schule des Rades
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