Schule des Rades
Arnold Keyserling
Bewusstsein im Sog der Evolution
Welt der Ideen
Es gibt keinen unpersönlichen Geist im Sinne von eigenständigen Wissenschaften, Ideologien, Bekenntnissen, Völkern und Reichen: es gibt nur Menschen, die den Schritt von der seelischen Verantwortung in die geistige Gestaltung vollziehen und damit die Norm erreichen.
Es gibt keinen unpersönlichen Geist; doch wir leben in einer Zivilisation, die auf dem Postulat kollektiver Wesenheiten aufgebaut ist; Parteien, Wirtschaftspläne, politische Richtungen, Firmen, alle heischen sie Loyalität und Gehorsam.
Damit geht der Mensch seiner Freiheit, seiner Bewährung verlustig; wie der Bürger in der demokratischen Wahl, überträgt er seine Verantwortung auf Erzeugnisse der Einbildungskraft, die die Wirklichkeit um eine Scheinwelt verdoppeln. So entsteht eine kollektive Neurose, die im öffentlichen Bereich nicht zu heilen ist, weshalb zeitgenössische Psychotherapeuten ihr Heilungsziel in einer Anpassung an existente, morbide Strukturen sehen: die Konsumgesellschaft etwa verlange eine Betonung des oralen Stadiums, die sozialistische Planungsgesellschaft eine des analen, und die nationalistische ein gewisses Maß an Hysterie.
Doch dieser Zustand ist nicht unausweichlich: Geist kann persönlich werden, die Dämonisierung lässt sich überwinden. Wie jedes andere Wesen hat auch der Mensch an der Evolution teil, an ihrer Gestaltungskraft. Doch während niedere Tiere Organe rekonstruieren können, ein geteilter Seeigel zu zwei vollen Organismen erwächst, funktioniert der menschliche genetische Schlüssel nach der Periode des Wachstums physiologisch nur mehr erhaltend: der Akzent verschiebt sich auf die Ebene der Vorstellung.
Zwischen Vorstellungsbild und sinnlichem Eindruck besteht kein wesentlicher Unterschied, auch Sinnesdaten müssen zu Vorstellungen werden, um bewusst zu sein. Die Vorstellungen haben einen Ursprung, und über diesen Ursprung — die Welt der Ideen, in philosophischer Sprache rationes seminales — wird der Mensch an die Evolution rückgebunden.
Der Quell ist in jedem: doch kann er verschüttet werden, wenn eine Identifikation den Zugang versperrt. Der Weg zu dessen Freimachung geht über Stufen: Arbeit, Erkenntnis und Integration führen schließlich zur Offenheit der Inspiration, in der natürliche Evolution und persönliche Erfüllung verschmelzen.
Den Ansatz bildet die Arbeit. Es gibt keine wirksame Ideologie, die nicht von wirtschaftlichen Gegebenheiten als entscheidend ausginge, und die Entlarvung ökonomischer Interessen bei vergeblich geistigen Zielsetzungen bildete den Hauptanstoß der soziologischen Bewegungen. Aber in ihrer geprägten Form — als Nationalökonomie — wird die Arbeitswelt selbst wieder zum Dämon, zur Fron, der niemand entrinnen kann. Wer nicht arbeitet, der solle auch nicht essen
: dieser Spruch enthüllt das schiefe Verständnis. Bei allen Tieren versteht sich die Ernährung von selbst, und Tätigkeit zur Erringung des Lebensunterhalts bedeutet menschlich entweder Beruf oder praktische Erzeugung. Arbeit geht über diese hinaus, insofern sie als Leistung Werte schafft. Werte gehören nicht zu Konsum und Produktion: sie beruhen auf den wahrnehmbaren Qualitäten. Der Mensch verwandelt in der Arbeit qualitativ Gegenstände nach geistigen Vorstellungen, um sie mit anderen vergleichbar zu machen und damit die empfindbare Wirklichkeit auf die geistige Ebene zu heben, in der allein sie bewusst werden kann.
Stoff aller Arbeit ist die sinnliche Wirklichkeit: die Welt der Farben, Töne und Laute, Geschmäcker und Gerüche, Formen und Gestalten. Arbeit entsteht nicht aus der Mühe, Mühe gehört zur Meisterung; der Klavierspieler bemüht sich, bis er sein Instrument beherrscht, nachher wird ihm seine Tätigkeit zum Spiel. Ansatz der Arbeit ist die Urteilskraft, deren Begriff richtig gebildet ist: er bedeutet das Vordringen bis zu den letzten Elementen, den Ur-Teilen, aus denen die Erscheinungen zusammengesetzt sind.
Der erste Schritt zur Überwindung der dämonischen Bekenntnisse und Ideologien wurde einerseits in der Physik mit der Erkenntnis der Letztwirklichkeit von Ereignissen und Konstanten, andrerseits in der modernen Kunst durch die Rückführung aller Erscheinungen auf ihre sinnlichen Urkomponenten vollzogen. Hier liegt der entscheidende Ansatz der Vergeistigung: nicht Synthese gilt es zu suchen, sondern Analyse. Der Wesenskern des Menschen ist dynamisch; er kann garnicht umhin, schöpferisch zu werden, sobald die falschen Zusammenhänge vernichtet sind.
Alle Qualitäten gehören der einen Ebene des Empfindens an; auch die wissenschaftlichen Daten werden letztlich über einen Sinn bewusst. Hierin gibt es nun die Möglichkeit höheren Wertes, der sich aber nicht auf die sogenannten Kulturleistungen beschränkt: sie sind nur graduell, nicht absolut von der Tätigkeit des Haushaltens geschieden.
Der Mensch spürt sich geistig leben, wenn er seine innere Kraft einsetzen kann, um Werte zu schaffen. Werte dienen weder dem Konsum noch der Produktion, sind weder tierisch noch pflanzlich: sie sind letztlich ökologisch, gestalten im Sinne der Evolution. Ein Michelangelo, der die Schaffung einer Skulptur als Befreiung der Statue im Stein bezeichnete, war der Wirklichkeit näher als jene Funktionalisten, die Arbeit dem Streben nach Wohlstand unterordnen. Einkommen ergibt sich aus Beruf und Verkörperung, die Arbeit hat ihren Wert in sich: sie bedeutet Klärung des Bewusstseins, oder schlicht Bewusstwerdung durch Vertiefung in die jeweiligen Elemente.
Das Mineral hat das Kristallisationsprinzip, wächst nach mathematischen Parametern. Pflanzen und Tiere stehen im Gleichgewicht, werden aus dem Überbewusstsein der Gattung und damit der Evolution gesteuert. Im Menschen tritt deren Born selbst in Erscheinung. Hier gilt es nicht nur zu erzeugen — der körperliche Aspekt — oder zu funktionieren im Rahmen der Berufe — der seelische Aspekt — sondern darüber hinaus geistig alle Arbeiten aufeinander abzustimmen, vergleichbar zu machen, im Umsatz den Grad der Werte zu vermehren. Im persönlichen Leben geschieht das im Haushalt, dessen Gesundheit durch Buchführung erhalten wird, im gesellschaftlichen in Verkehr, Handel und Wirtschaft, im geistigen ist es die Einbeziehung aller Arbeiten auf einer einzigen Ebene: immer bedeuten sie Synthese von Elementen; daher kann es keinen Wertunterschied zwischen Tätigkeiten geben, diese ergeben sich zwischen den Leistungen, den Ergebnissen.
Aus diesem Grunde ist die demokratische Arbeitswelt menschengerecht, sofern sie nicht wiederum durch Ideologien das Niveau, die Ebene der Normalität, zerstört. Solche Ideologien schaffen falsche Hierarchien, die sich dann gegen sogenannt zersetzende Kritik zu wehren suchen. Niemals kann Kritik, sofern sie zu Elementen führt, zerstörend sein: da der Wesenskern sich logisch nur als Nichts bestimmen lässt — als das Tor, durch welches die Evolution mittels des Menschen wirkt — befreit Kritik den inneren Zugang. Doch die einzig wirksamen Kriterien sind jene, die die Wirklichkeit selbst bietet: die tatsächlichen Elemente; und nur dann, wenn sie jedem verfügbar sind, wird er einerseits persönliche Synthesen schaffen können, andrerseits denen anderer gerecht werden und dieserart falscher Dämonenbildung entgehen.
Die Worte müssen den Elementen der Wirklichkeit angepasst sein: das war das Postulat aller Sprachphilosophie und Kombinatorik, von Ramon Lull über Descartes und Leibniz bis zum Wiener Kreis. Damit kommen wir zum zweiten Schritt nach Erreichen des Niveaus der Sinneselemente: zur vergeistigenden Erkenntnis.