Schule des Rades
Arnold Keyserling
Bewusstsein im Sog der Evolution
Individuellen Vollendung
Jedes Wesen, jede Monade ist in Wechselbeziehung zur Gesamtheit des Universums. Während dies physikalisch für jedes Atom offensichtlich ist, versteht es sich für das Bewusstsein nicht von selbst. Der Mensch kann sich abkapseln ein falsches Gleichgewicht anstreben; eine angstgeborene vermeintliche Sicherheit in einem Gehäuse suchen und einen Ausschnitt der Wirklichkeit gleich der Sandburg eines Kindes am Strand verteidigen. Daher gilt es, die Unendlichkeit zu akzeptieren, und zusammen mit dieser Unendlichkeit die Tatsache, dass das All einen inneren, energetischen Zusammenhang haben muss, der nicht nur virtuell, sondern aktuell die Verbindung schafft; einen Zusammenhang, den die Philosophie als ens realissimum
und die prophetische Religion als Gott bezeichnete.
Von der einfachsten Begrifflichkeit her gliedert sich die allumfassende Wirklichkeit in Masse, energetischen Austausch, und Information, d. h. beharrende Qualität im Rahmen einer Ordnung oder Schicht. Der Zusammenhang des Alls ist das Vierte, der unerschöpfliche Weltenursprung. Er verbirgt sich hinter dem Begriff der Information oder Qualität als eine besondere Art des Nichts: als die Möglichkeit, die Potentialität, die Anfang und Ende, Ursprung und Verwirklichung jeder Wesenheit umfasst.
Träger der Information ist jedwede Monade, vom Atom über Pflanze, Tier und Mensch zu unerkannten Wesenheiten, deren Dasein die Mythen in Form von Engeln und Dämonen erahnten. Im Atom bedeutet die Information den Zahlenschlüssel, die Struktur des Elements, in Pflanze und Tier das Genom, den Schlüssel der Erbanlage im Rahmen einer Gattung. Doch im Menschen bildet sie die Fähigkeit des Bewusstseins und -werdens, das der Wahrnehmung aller Qualitäten und damit der Subjekthaftigkeit zugrundeliegt.
Das Bewusstsein heißt Ich — und heißt auch wieder etwas anderes: Haben eines Organismus, dessen Dreifältigkeit die Begriffe
- Geist · Vorstellung,
- Seele · persönliche Beziehungen, und
- Körper · Stofflichkeit umgreifen;
Werden im Rahmen der Evolution, im Sog des Wirkens der Wirklichkeit, deren Ursprung nicht persönlich, sondern überpersönlich ist; und schließlich die Möglichkeit der individuellen Vollendung oder Läuterung, einer Erfüllung, die wohl einen bestimmten Schritt im Rahmen kosmischer Entfaltung bedeutet.
Dieser letztere Aspekt ist für die menschliche Wirklichkeit entscheidend. Uexküll hatte gezeigt, dass der Mensch sich vom Tier darin unterscheidet, dass sein Milieu nicht eine bestimmte Merkwelt, sondern die ganze Umwelt ist. In dieser Umwelt — die notwendigerweise das Universum umfasst — gibt es primäre und sekundäre Faktoren: solche, die ihn direkt bestimmen, und solche, deren Bedeutung für den Menschen vernachlässigt werden kann, wie etwa die Beziehung zu Sirius oder Betelgeuze.
Hier gilt es nun, die erste Richtigstellung vorzunehmen: Für die sozialen Ideologien der technischen Zivilisation sind die primären Faktoren menschlich oder irdisch. Tatsächlich ist aber das Leben auf dem dünnen Film der Erdoberfläche, mit seinem etwa zwölf Kilometer Durchmesser, durch das Sonnensystem bestimmt: ohne Sonne kein Licht, ohne Mond keine Gezeiten und Wetterformationen, und ohne die tatsächlichen Zeitparameter der Planeten keine persönliche Vielfalt der Rhythmen.
Für Einstein waren Raum und Zeit Parameter der Materie, und bildeten keine klar definierten Größen; für das Bewusstsein hingegen sind Raum und Zeit Parameter bestimmter Qualitäten. Der bloße Begriff der Materie, wenn er nicht nur als denkerischer Ordnungsbegriff verwendet wird, führt irre: tatsächlich gibt es nur Atome, Moleküle, Zellen, Organismen, und Bewusstseinsträger in unserem Wahrnehmungsbereich. Für das Bewusstsein ist jede Wesenheit, jegliche Information, aber auch jegliche Masse- oder Krafterscheinung durch zwei Koordinaten zu bestimmen
- die räumlich-beharrende, und
- die zeitlich-wandelnde.
Räume und Zeiten gibt es in der vierdimensionalen Wirklichkeit auf Grund des allgemeinen Mediums der Lichtgeschwindigkeit oder des Energieaustausches. Aber die Räume und Zeiten sind nicht unendlich: unser Lebensraum wird virtuell und seit Beginn der Raumfahrt auch aktuell durch den Rahmen des Sonnensystems bestimmt, von der Sonne bis zum letzten entdeckten Planeten. Und Zeitfaktoren kann es ebenfalls nur so viele geben, als makrokosmische Zeiterzeuger existieren: unsere Zeit wird daher durch die Umläufe von Sonne, Mond, Erde und Planeten geschaffen.
Alle zu beobachtende Qualität lässt sich denkerisch als Wechselbeziehung von Raum und Zeit, Masse und Schwingung beurteilen. Ein Ton etwa wird durch Wellenlänge einer Luftschwingung und Häufigkeit der Vibration auf Grund der (innermateriellen) Schallgeschwindigkeit, eine Farbe durch Wellenlänge und Frequenz im Rahmen der Lichtgeschwindigkeit bestimmt. Andere Sinnesdaten, wie Tastgegebenheiten oder Geschmäcker, lassen sich als Mischung inner- und außermaterieller Verhältnisse verstehen. Diese Qualitäten sind die Wirklichkeit, von ihnen gilt es auszugehen. Und nur dann, wenn nicht allein die Sinnesdaten, als primärer Stoff allen Wissens, sondern auch die tatsächlichen Raum-Zeit-Faktoren als entscheidende Koordinaten bestimmt sind, können wir auf der Erde ein wirklichkeitsgemäßes, kosmisches Bewusstsein erreichen, das — wie wir hoffen können — nicht nur den wissenschaftlichen, sondern auch den existentiellen und religiösen Problemen gewachsen ist.