Schule des Rades
Arnold Keyserling
Bewusstsein im Sog der Evolution
Heteronomes und autonomes Bewusstsein
Bewusstsein wird für gewöhnlich der Zustand des Wachens genannt: die Tatsache, dass man nicht schläft, nicht träumt, sondern entweder die Außenwelt wahrnimmt, oder über Probleme nachdenkt und in Kommunikation mit anderen steht. Solch ein Bewusstsein wird für statisch gehalten, als das Bleibende im Wandel bestimmt.
Doch von dem Wort Bewusstsein betrifft dieser Zustand nur einen Teil: die erste Hälfte, die mit Wissen zu tun hat, mit den Inhalten, während der zweite Teil des Wortes sein nicht notwendig dabei sein muss. Denn Bewusstheit kann autonom sein, sie kann auch heteronom sein; sie kann durch Inhalte bestimmt werden, oder sie kann die Inhalte lenken.
Dieser zweite Zustand verlangt eine andere Auffassung der Wirklichkeit, als sie im gewöhnlichen Sprachgebrauch üblich ist. Zwar weiß der naturwissenschaftlich Gebildete theoretisch, dass unsere Wirklichkeit im vierdimensionalen raumzeitlichen Kontinuum besteht; dennoch kommt man sich selbst statisch vor, und schwer ist es, den Fesseln des dreidimensionalen Weltbildes zu entrinnen, das mittels der Zeit von einem Zustand in den anderen verwandelt würde, wobei der Wandler selbst wieder ruhig wäre.
Tatsächlich ist das Bewusstsein nicht ruhig,
sondern besteht im Sog der Evolution.
Diesem gegenüber hat der Mensch zwei mögliche Haltungen:
- Er kann sich mit Assoziationen an der Peripherie des Wirbels identifizieren, sie gleichsam wie einen Zug besteigen,
- oder er kann sich in die Mitte des Soges werfen — in jenen Ort, der im Wasserstrudel, im Auge des Wirbelsturms, oder als Nabe des Rades unbeweglich ruht.
Unbeweglich in Hinsicht auf die Waagrechte beim Rad — aber nicht unbeweglich in senkrechter Richtung. Denn die Mitte ist gleichzeitig Ort der Potentialität, wo die Null dauernd zur Eins wird, wo der Quell des Bewusstseins gleich einem Geysir sprudelt und die Welt mit immer neuen Gestaltungen bereichert.
Das Subjekt des Menschen, das Sein, ist inhaltsleer, aber inhaltsschaffend. Aber dies nur dann, wenn es sich zu sich selbst bekennt, und darüber hinaus jenes Inhaltschaffen in der Gemeinsamkeit mit anderen erfährt.
Auch das Sein hat eine Struktur: beim Menschen bedeutet sie das Genom, der leibliche Schlüssel der Erbanlage. Dies ist das Instrument, mittels dessen der Mensch im Konzert der Wirklichkeit mitwirkt. Nur dann, wenn er den Sog akzeptiert und sich in dessen Mitte — das Wagnis des eigenen Wollens — fallen lässt, kann er seelisch und geistig zum Sein erwachen, womit dann die beiden, von der Bewusstseinspsychologie unintegrierten Gebiete der unterbewussten Triebhaftigkeit und unbewussten Struktur einbezogen sind.
Solch ein Mensch ist gleichsam Regisseur und Akteur seines eigenen Lebens. Hier liegt nun die entscheidende Wandlung: niemand kommt zum Sein, der nicht dessen Struktur, wie er nun einmal ist und was er ist auf Grund seiner Erbanlage, zur Kenntnis nimmt, denn nur von dieser bzw. deren Mitte aus lassen sich Seele und Geist entfalten.
Der Körper hat ein Bleibendes im Wandel: das Genom, die Informationsstruktur, derzufolge sich der Leib artikuliert. Seele und Geist hingegen entfalten sich auf seiner Grundlage, wobei die Seele zu ertragen und der Geist zu gestalten wäre.
Die Seele ist zu ertragen — die Tragfähigkeit der Seele
— ihr Gesetz ist die Dauer. Es gilt für alles einzustehen, was man getan hat und was einem zugestoßen ist. Scheitern und Erfolg sind gleich Moll und Dur einer Melodie; ihr Wechselspiel ist das Wesentliche. Daher sind psychische Schwierigkeiten, Komplexe und Probleme durch Bewusstmachung zu läutern; selbst im Falle von Psychosen kann, wie Laing gezeigt hat, eine Regression bis zur frühesten Kindheit negative Einflüsse von Eltern und Umwelt wieder gut machen. Aber nur dann, wenn der Schwerpunkt nicht psychisch festgelegt wird — wenn das eigene Drama nicht zum Angelpunkt der Existenz wird, in dessen Betrachtung sich der einzelne wie vor einer Kinoleinwand verliert.
Die Seele bildet den Schwerpunkt des Tieres, nicht des Menschen. Dieser kann seine Wirklichkeit nur im Geist finden, in der Vorstellung, im Lernen, Arbeiten, Inspiriertwerden und Vollenden.
Der Sog der Evolution ängstigt jenen, der sich an der Peripherie — einer Welterklärung oder Ideologie — krankhaft festhält und von ihr mitgerissen wird. Jenem, der sich in seine Mitte wirft und alle Schuld und alles Scheitern, aber auch alle Erfolge und Leistungen auf sich nimmt, wird sie zum Motor der eigenen Verwirklichung. Denn die Evolution hat Stufen. Alle Wirklichkeit lässt sich auf tatsächliche Wechselbeziehungen zwischen Monaden zurückführen, seien diese nun Atome, Einzeller, Pflanzen, Insekten, Tiere oder Menschen. Jede Kraft hat einen Ursprung in einem sich drehenden Gefüge, das sowohl in sich als in Bezug auf andere ewig west. Im Mineral, bei den Einzellern, bei Pflanzen und Tieren ist das Gefüge überbewusst, die Evolution bedient sich ihrer gleichsam.
Beim Menschen hingegen wird es bewusst. An die Stelle der Gattungsseele treten die einzelnen Individualitäten, sofern sie das Bekenntnis zu ihrer Mitte vollzogen haben, und gleichzeitig den Zusammenhang mit allen anderen Wesenheiten verwirklichen.
So ist das Bekenntnis zu sich selbst, zum eigenen Wollen, zum Wagnis der persönlichen Existenz der Ausgangspunkt des wahren Bewusstseins. In den traditionellen mythischen Kulturen wurde diese Wandlung als Initiation über die Schwelle des Todes rituell vorweggenommen, die heutige Welt ignoriert sie. Hier liegt der entscheidende Ansatz:
irgendwann muss jeder seinen ideologischen Zug — den er sich im Sinne einer Freudschen Ichbildung zwischen Zensor und Triebhaftigkeit zurechtgezimmert hat und mit dem er an der Peripherie kreist — verlassen und sich in die innere Stille stürzen, um seine eigene Offenbarung zu erleben, seinen Kern zu enthüllen. Denn erst von diesem aus erlebt er die große Gemeinsamkeit mit anderen, jene Verbindung in Allgegenwart, getragen von der Urkraft, im Sein und in der Liebe, die die ursprünglichen Traditionen mit dem unerschöpflichen Weltenursprung identifizierten.
Das körperliche Genom, die eigene Anlage gilt es anzunehmen, die Seele gilt es zu läutern, zu voller Tragfähigkeit und Verantwortung zu bringen. Doch der Geist als das eigentliche Feld des Bewusstseins — in dem der Mensch ebenso schöpferisch wird wie die Natur im Reichtum ihrer Formen, wo also der einzelne im Bereich der Vorstellung zum Mitarbeiter der Evolution aus seiner eigenen Mitte heraus würde — ist auch nicht ohne weiteres zugänglich; da der Schwerpunkt des Bewusstseins durch die Sprache bestimmt wird, gilt es ihn zu artikulieren, in seinen Möglichkeiten zu verstehen, welche Möglichkeiten in genauer Analogie zur körperlichen und seelischen Wirklichkeit sein müssen, um wirksam werden zu können.
Daher ist der persönliche Weg nach Überwindung aller zentrifugalen Ideologien mit ihrer falschen Geschäftigkeit einer des Wissens und auch gleichzeitig des Mutes: jener der Philosophie im alten Sinne als der Vereinigung von objektiver und subjektiver Wahrheit.