Schule des Rades
Arnold Keyserling
Bewusstsein im Sog der Evolution
Subjektive und objektive Wahrheit
Philosophie hat ihren Ursprung in Pythagoras: in seinem Streben, Leben in Form des Wissens anstelle der Nachahmung mythischer und heroischer Figuren zu lehren.
Während die traditionellen Religionen von einer subjektiven Synthese ansetzten — einer göttlichen Inkarnation oder einem Helden — versuchte er, hinter die Vielfalt der Erscheinungen zum Gesetz vorzudringen, das diesem nicht — im Sinne der neuen Wissenschaft — zugrundeläge, sondern vielmehr ihr Zustandekommen bestimmte. Dies Gesetz fand er in der Welt der Zahlen, wie sie sich den Sinnen über die Musik offenbaren, über das harmonische Wechselverhältnis der Töne und Intervalle, aus denen er das Gebäude der Mathematik konzipierte.
Zusammenfügen und trennen: die mathematischen Prozesse von der Addition und Subtraktion, Division und Multiplikation bis zu den musikalischen Reihen bestimmen die Art und Weise, wie sich Erscheinungen aus Elementen bilden. Nur dann, wenn der Mensch selbst hinter die Wirksamkeit der Zahlen trete — in die Mitte seines Wirbels — könnte er wirklich zum Subjekt seines Wesens erwachen, und damit sein Leben in Form des Wissens autonom meistern. Dieses Wissen ist nur über das Schweigen zu erlernen. Erst nach einigen Jahren intellektueller Askese gelingt es dem einzelnen, hinter seine Assoziationen zu treten und ihr Zustandekommen nicht nur zu beobachten, sondern auch zu lenken.
Das Lenken ist anders als die wissenschaftliche Tätigkeit, die eine Beziehung zwischen wie immer geartetem Mensch und Wirklichkeit — in der Neuzeit: Übereinstimmung zwischen Hypothese und Experiment — statuiert. Jene Übereinstimmung verwendet nur zwei der Bewusstseinsfunktionen:
- das Denken für die Theorie,
- und die Empfindung für die Beobachtung des Experiments.
Die beiden anderen,
- das Wollen der persönlichen Kontinuität, die Dramatik der Existenz,
- und die Triebmelodien des Fühlens zwischen Sehnsucht und Erfüllung werden außer Acht gelassen.
Letztere scheinen irrational, nicht der logischen Erkenntnis zugänglich: sie sind verborgen, okkult, wie es später in der Philosophie der Renaissance heißen sollte.
Aber sind sie deswegen gesetzlos, unmathematisch? Die neuere Wissenschaft hat als Endergebnis gezeigt, dass die sogenannten Naturgesetze — also jene Verhältnisse die dem Empfindungsbereich über das Denken abstrahiert werden — nicht kausal deterministische, sondern nur statistische Gültigkeit besitzen. Die gleiche Gültigkeit — die sich als Ausfluss des Gesetzes der Zahlen erkennen lässt — steuert aber auch jene Vorgänge, die uns dem Zufall unterworfen scheinen: die Zahl der Selbstmorde in Dänemark, der Vierkleeblätter auf einem großen Feld und der Buckligen in China ist ebenso konstant wie die Anzahl der Atome, die im Rahmen eines großen Zusammenhangs Strahlung abgeben oder sich erwärmen.
Atome sind spontan, im einzelnen unvoraussehbar, das Verhalten von Einzellern, Pflanzen, Tieren und Menschen ebenfalls. Sobald eine Handlung durchgeführt wird, ist sie Teil aller Geschehnisse der gleichen Art, tritt mit diesen in Wechselwirkung und wird aus diesem Grund bestimmbar im Rahmen eines Gefüges, das sich selbst wieder als Ausdruck der Zahlenwelt verstehen lässt.
Zahlen sind Parameter: in der Wirkung lassen sich alle auf Wechselverhältnisse von Ruhe und Bewegung, Raum und Zeit zurückführen. Als Zufall bezeichnen wir jene Ereignisse, deren Parameter uns nicht zugänglich sind; als notwendig die, die wir verstehen. Sobald ein wirkendes Sein vorhanden ist — die Einzelheit — müssen wir seine Existenz akzeptieren. Sobald dieses Sein ins Dasein tritt, eine Wirkung beginnt, können wir sie beschreiben. Und die Art und Weise der Beschreibung kann an allem ansetzen, was zahlenmäßig fassbar ist. Wenn die Zahlen wirksam sind, so muss man hinter sie treten können: dies tut der Wissenschaftler, der ein Experiment mit klaren Parametern beginnt, nicht minder als der Schamane, der bestimmte sinnlich erfassbare, also auf das Empfinden beschränkte Komponenten nicht mit dem abstrakten Denken, sondern mit dem Wollen, der Kontinuität des Wandels verknüpft und damit die Schwelle des Unterbewussten und Unbewussten, von Traum und Tod überschreitet.
Objektive Wissenschaft und Wahrheit postuliert Übereinstimmung zwischen Empfinden und Denken; die beiden weiteren Funktionen, Fühlen und Wollen, bedeuten subjektive Schritte. Die wissenschaftlichen Daten und Gesetze stehen ebenso unverbindlich nebeneinander in ihren Axiomen wie die Daten der Außenwelt. Der Wissenschaftler hat selbst ein Motiv, warum er sich — gerade zu dieser Zeit — jener Problematik zuwendet; und die Motivation hat wiederum ihren Grund in seiner Struktur, seinem Wollen.
Aber selbst mit dem Wollen ist die spontane Subjekthaftigkeit noch nicht erreicht: es gibt willensstarke Menschen, deren Wollen sich als blinde Kraft verwirklicht, ohne dass sie je zu Bewusstsein kommt. Hierzu ist ein weiterer Schritt notwendig: es gilt die Wirklichkeit selbst in ihren vier Aspekten,
- der Struktur,
- der Motive,
- der Gesetzlichkeiten, und
- der Qualitäten,
auf ihren Ursprung hin zu durchstoßen; auf jene Macht,
- die körperlich als die Urkraft,
- seelisch als Gott, und
- geistig als das Unerschöpfliche erfahren wird,
mit der das einzelne Bewusstsein ins unmittelbare Gespräch treten kann.
Der Dialog zwischen Wesen und Unerschöpflichem ist die wahre Dialektik des Seins; erst in diesem sind subjektive und objektive Wahrheit vereint.
- Erfahrung geht bis zur Bewältigung der sinnlichen Wirklichkeit,
- Erlernen bis zum Erkennen der Parameter.
Damit ist der objektive Teil des Bewusstseins vergegenwärtigt, und die zwei weiteren Schritte sind subjektiv:
- die Welt der Träume und Triebe kann nur über die Liebe integriert werden,
- und das Wollen schließlich kann nur errungen werden, wenn der Wille geschichtlich angejocht ist — wenn sich das Subjekt als Glied einer Kette versteht, für die Leben und Tod nicht absolute Gegebenheiten sondern ergänzende Pole bedeuten.