Schule des Rades
Arnold Keyserling
Bewusstsein im Sog der Evolution
Weltenjahr
Das Erwachen, die Mutation vom homo faber zum homo sapiens geschah im Übergang der Präzession des Frühlingspunktes aus der Konstellation Löwe in jene des Krebses, weshalb auch wohl das Bild des rückwärtsgehenden Tieres als Kennzeichen im babylonischen Kulturkreis — jenem, der als erster die astrologische Gesetzlichkeit erkannte — gewählt wurde.
- Als erste Periode brachte die Krebszeit die Bildung der Familie, im Gegensatz zur tierischen Promiskuität der Generationenfolge.
- In der zweiten, der Zwillingszeit, schlossen sich die Klans zu nomadischen Stämmen zusammen, die über die ganze Erde wanderten.
- In der dritten, der Stierzeit, wurden diese seßhaft, und bildeten ritualisierte Stadtkulturen.
- In der vierten vereinigten sich die Städtebewohner in neuer Wanderschaft zu den heiligen Völkern der Widderzeit, der natürliche Mensch trat in den Vordergrund.
- In der fünften Periode der Fischezeit, die 200 vor Christi Geburt begann, wurden die ausschließlichen Völker zu Reichen und Bekenntnisgemeinschaften vereint,
- und mit der 1962 angebrochenen sechsten Periode der Wassermannzeit wird die Gattung selbst zum Gemeinschaftsrahmen — die expansive Geschichte hat ihr Ende erreicht. Fortan gilt es, den Menschen als Individuum, wie es die demokratischen Ideologien anstrebten, zum bewussten Träger seines Evolutionsimpulses zu erheben und damit Natur und Zivilisation endgültig zu versöhnen.
Die Erweiterung des sozialen Bewusstseins über die sechs Stufen wurde durch die Kulturheroen vollzogen. Ihre Bemühungen ergänzten Offenbarungen, die nicht dem menschlichen Verstand entsprangen, sondern als überbewusste Steuerung, als Inspiration den jeweiligen Führern einfielen — nicht viel anders als bei den Tierarten die instinkthafte Lenkung zu funktionieren scheint.
- Die Gründung des bewussten Klans im Rahmen der Primatenhorde war nur möglich durch funktionelle Gliederung nach Berufen wie Ackerbau, Viehzucht, Jagd, Krieger, Schmied, Arzt, Richter, Lehrer und so fort. Dies führte am Ende der Krebszeit zu einer Verhärtung, da zur Aufrechterhaltung der Ordnung niemand aus seiner Funktion aussteigen konnte.
- So versuchten die Kalenderkulturen der Stämme der Zwillingszeit die Funktionen mit bestimmten Lebensaltern in Beziehung zu setzen, wobei immer eine Initiation die niedere von der nächsthöheren Klasse trennte: die Schaffung einer aufsteigenden Reihe von Geheimbünden, die auf vierundachtzig Jahre angelegt war und jedem Stammesmitglied die Summe der Funktionen zugänglich machen sollte.
- Auch die Kalenderkulturen verhärteten sich im Ritus, die Stadtzivilisationen der Stierzeit verwandelten Berufe und Altersklassen in Kulturgebiete, welche als Gestalt des Großen Menschen vom Himmel abzulesen waren; wobei die Konstellation Widder den Kopf und Fische die Füße symbolisierten, und jedes Tätigkeitsfeld einem Organkreis entsprach, wie dies die ägyptische Weltauffassung deutlich macht; das Leben als Schule verstanden, welche aber nicht nach Altersgruppen sondern nach Wissensstoff gegliedert wurde, wozu die Entdeckung der Schrift die Voraussetzung bildete.
- Doch aller Wissensstoff ist schließlich Teil des natürlichen Menschen: die Gottesvölker der Widderzeit empfingen die Offenbarung des heiligen Gesetzes, welches das Alltagsleben bis ins Detail ordnete und damit den natürlichen Menschen als
Gerechten
an die Stelle der als Tierkreisgötter personifizierten Kulturgebiete setzte, und der fortan den Zugang zum reinen Wollen im Gehorsam anstrebte. - Wiederum verhärteten die Gerechten der Widderkulturen in der Statik: die Liebesgemeinschaften der Fischezeit, die Glaubensbekenntnisse sahen die Überwindung der Volksegoismen als Ziel, empfingen die frohe Botschaft von der persönlichen Unsterblichkeit von den Stiftern der Weltreligionen, und schufen Reiche im Sinne des Strebens nach Vollendung: das irdische Leben sollte Abbild einer himmlischen Hierarchie werden, deren Wahrheit der einzelne nicht nachprüft, sondern gläubig annimmt.
- Am Ende der Periode entarteten die Hierarchien zu bloßen Herrschaftsverbänden, die Reichsidee wurde zum ideologischen Mantel, und so kam es zur letzten Wandlung, mit welcher wir am Ende der imperialen Geschichte angekommen sind: mit Beginn der Wassermannzeit ist der Mensch gleichsam im mentalen Alter von 35 Jahren mündig geworden, die Hierarchien wurden durch die demokratischen Verfassungen größtenteils vernichtet. Aber damit stellt sich die Frage nach der neuen Offenbarung: nach dem direkten Verstehen des Lebens- und Bewusstseinsgrundes über das Denken. An die Stelle der ständischen Gesellschaft und des Strebens nach Läuterung tritt die Arbeit im Rahmen der technischen Zivilisation, an die Stelle der Hierarchie die Gleichheit. Doch an die Stelle des Reichs muss nun die Gattung selbst treten: die ideologischen Koordinaten der Fischezeit sind nicht mehr gültig. So wird es notwendig, die Struktur von Körper, Seele und Geist neu zu formulieren: Mensch und Natur, Geist und Triebhaftigkeit stehen nicht mehr im Gegensatz; der einzelne erreicht seine Selbstbestimmung in einem Maße, wie er bewusst zum Quell der Evolution vorstößt: zum Unerschöpflichen jenseits von Name und Form, im Born der äußeren und inneren Wirklichkeit.