Schule des Rades
Arnold Keyserling
Strahlen der Wahrheit
II. Zeugende Zahlen
Vier
Die Vorstellung der Vier entstammt in vielen der Kulturkreisen den vier Stationen des Mondes: Neumond, Vollmond, zunehmender und abnehmender Halbmond. Während die Drei dialektisch fortschreitet, an einer immer neuen Erkenntnisbasis anknüpft, also letztlich linear ausgerichtet ist, geht die Vier von unvereinbaren Richtungen aus: Tag, Nacht, Morgendämmerung und Abenddämmerung.
Schlafen, Träumen, Wachen und Reflexion wechseln einander ab. Man kann nicht gleichzeitig schlafen und reflektieren, oder wachen und träumen. Die Dreiheit, Geist, Seele und Körper, ist bewusst zu vereinen; dagegen sind das Empfinden der Sinne, das Denken der Worte, das Fühlen der Triebe und die Wahl des Einsatzes der Kräfte im Wollen zu trennen. Erst mit Jung und Gurdjieff wurde die Vierfältigkeit zum Ansatz des ganzheitlichen Gewahrseins.
Mond ist Phantasie, Vorstellung, aber auch Gier und Wahn. In vielen Sprachen ist er die Wortwurzel für Wahnsinn, etwa lunatic auf englisch. Er ist Gegenspieler der Sonne, die von der Erdperspektive aus, phänomenologisch den gleichen Umfang hat. Er kann die Sonne verdecken, oder die Erde kann ihn verdecken. Diese beiden Extreme, die Finsternisse, sind seit Beginn der Geschichte entscheidende Einschnitte gewesen. Die Sonne kennt nur den Tag und nicht die Nacht; dort übernimmt die schwarze Sonne oder das Licht der Aufmerksamkeit, symbolisiert im Polarstern die Führung.
Im Paradies verwehren vier Erzengel dem Menschen die Rückkehr zum Baum des Lebens. Für Jung ist immer eine Funktion Leitfunktion, die zweite Hilfsfunktion, die dritte unbewusst und die vierte archaisch oder minderwertig.
Der Mond galt als Grenze zum Himmel, die geistige Erlösung begann oberhalb seines Zeitmaßes, bei Überwindung der sublunaren Sphäre, die dem Verderben unterworfen sei. Die Einbildungskraft des Mondes ist in ständiger assoziativer Bewegung. Im Yoga wird das Gewahrsein erreicht, wenn diese Scheinwelt, der gaukelnde Affe, durch Übung und Meditation zur Ruhe gebracht ist; dann ruht der Mensch in seinem Wesen und ist glücklich.
Der Vollmond spiegelt die Sonne und eröffnet das Gewahrsein, indem er die Schranke von bewusst und unbewusst überwindet. So ist für die chinesische Kultur der Mond zusammen mit dem Jupiter mit seinem zwölfjährigen Rhythmus der Ursprung aller Motivation. Die vierfältige Gliederung spiegelt sich in allen traditionellen Ordnungen wie etwa den indischen Kasten, oder den Lebensabschnitten. Der Mond ist auch am Tage sichtbar, die Phantasie kann Leben und Tod, die vier Stufen des Bewusstseins vereinen. Mond gilt in den meisten Überlieferungen als das linke Auge, die Sonne als das rechte. Mond nimmt außer den gaukelnden Illusionen auch den Tierkreis als Schema des Körpers, als Mensch im All und als Urbild der Menschwerdung wahr. Er ist, wie ich im Atlas des Rades
gezeigt habe, der Ursprung aller Krisen, die einen im Fegefeuer nach dem Tod bedrängen, wenn man sie nicht in bewusster Läuterung vorweggenommen hat, wie bei den Psychotechnologien der transpersonalen Psychologie.
Das Erkennen der vier Richtungen, vorne, hinten, rechts und links gliedert den Menschen in die Senkrechte ein, wenn er die persönlichen Richtungen auf die Himmelsrichtungen einstimmt und damit die verderbliche Bewusstheit des höllischen Eingesperrtseins überwindet: Osten · Morgen, Westen · Abend, Süden · Mittag, und Norden · Mitternacht, die vier Achsen des Horoskops.
Mond ist Schwerpunkt des Weiblichen, Sonne des Männlichen. Die Verehrung der Sonne bringt die Gefahr der Identifikation mit dem vermeintlich Guten, welcher Gefahr nur der Buddhismus in seiner Bestimmung der Leere als Voraussetzung des Erlebens der Fülle entgangen ist.
In der kopernikanischen Wende von der Zeit zum Raum wurde der Mond mit der Erde als ein Himmelskörper begriffen, mit dem Erfolg, dass seit der Aufklärung das vermeintlich Gute zu entsetzlichen Kriegen geführt hat.
Im Atlas des Rades
und der Geschichte der Denkstile
habe ich viele weitere Analogien angeführt. Der Sinn verhält sich zur Bedeutung, die Zahl zur Sprache wie die Grammatik zur Information.
Auch die physikalische Welt ist seit Einstein wieder vierdimensional, und nimmt man den vierfältigen Mond als Wahrnehmungsschlüssel, dann kann man alle Erscheinungen und Wesen ohne Vergewaltigung verstehen.
Im Dreieck sind Punkte und Linien auf der Fläche gleichzahlig, doch im Viereck gibt es sechs Linien; sie erzeugen eine Mitte als Basis des afrikanischen und chinesischen Weltbildes, wo aus dem Wechselspiel der vier Bewusstseinsschichten in der Mitte der Wunsch und die Sehnsucht auftauchen. Doch das letzte Ziel des Gewahrseins ist die Spiegelung der Wirklichkeit. Die Mitte im Viereck ist nullhaft, entsteht durch die Diagonalen. Aber das Fünfte kann auch als Glied anerkannt werden wie der Daumen der Hand. Diese Bedeutung wurde einerseits vom Taoismus, andererseits von Pythagoras geklärt.