Schule des Rades

Arnold Keyserling

Strahlen der Wahrheit

IV. Offenbarung der Erde

Widderland - Rahu

W i d d e r l a n dWer die Vereinigung mit dem Göttlichen über das Wissen sucht, findet seine Inspiration in Westeuropa, wobei nicht nur die philosophischen Pioniere, sondern auch die Epen von König Artus und seiner Tafelrunde, ferner die Druiden und die keltische Weisheit ihn inspirieren werden. Die Liebe ist Schwerpunkt des Wassermannlandes, ob nun einmal Flandern im Vordergrund stand oder Katalonien und die Provence. Wer an der Kultur mitarbeiten will, an der Institution einer Welt, die das Göttliche in der Kunst sichtbar macht, wird seine Inspiration in Mitteleuropa und Osteuropa oder den Mittelmeerländern finden. Wer aber das unmittelbare Anliegen hat, die Gesellschaft auf den künftigen Himmel, die Neue Erde abzustimmen, dessen geistige Heimat ist das weite Gebiet des Widders, von Mekka bis nach Pakistan, im Norden von den finnisch-ugrischen Völkern und den sibirischen Schamanen, bis nach Madagaskar. In der Wassermannzeit ist der menschliche Werdegang als III. Haus auf den Widder geeicht, die Ichperson muss sich in der Freundschaft verwirklichen. In diesem islamischen Bereich ist der Gegensatz zur Vergangenheit am stärksten; der Fundamentalismus dreht tatsächlich die Zeit gemäß der islamischen Zeitrechnung auf das 15. Jahrhundert zurück. Hier ist daher das Verständnis des Untergrundes, der Esoterik der Bruderschaften der Sufis, besonders wichtig. Um dies zu verstehen, gehen wir auf den Mythos der Kaaba zurück, wie sie ein Hadith, eine mündliche Überlieferung des Propheten Mohammed schildert, die Henry Corbin im Eranoskreis in Ascona berichtete.

Allah überlegte sich, wem er nun nach der Entfaltung der Natur die weitere Entwicklung der Erde anvertrauen sollte. Er beschloss, den Menschen als letztes der Tiere zum Träger der Verantwortung zu erheben. Die Engel, also seine geistigen Helfer widersprachen: Wir sind dir immer gefolgt; warum willst du die Zukunft diesem Menschentier anvertrauen, das dich alsbald verraten wird? Allah sprach:

Ich habe in sein Herz die Zauberperle versenkt, also die Erinnerung an seine himmlische Herkunft. Gerade, wenn er in größter Finsternis leidet, wird er sich daran erinnern, und sein Ruf wird auch andere aufwecken, weil die Stimme des Herzens stärker ist als alle Vernunft.

So sandte er den Himmelsmenschen — das höhere Selbst des Adam — auf die Erde, und gab ihm einen Stein, den Meteoriten der Kaaba zur Orientierung mit. Er landete in Indien, und musste diesen Stein nun nach Mekka bringen, dem Ostpunkt der Erde im Tierkreis, von wo allein die Orientierung im zweifältigen Wesen — irdisch und geistig — möglich ist. Da der Stein schwer war, gab er ihm den Erzengel des Wortes im Symbol des Stieres, Gabriel, als Helfer mit, und beide brachten den Stein nach Mekka, wo sie ihn in einen schwarzen Würfel einbauten. Dieser Würfel ist mathematisch, wie ich in meinem Atlas des Rades nach der Entdeckung durch Dago Vlasits (siehe: Die Kaaba des Kosmos) ausgeführt habe. Er ist das Modell der vier Attraktoren als Kraft oder Erzengel Gottes, mit der Neunfältigkeit der Ziffern als Mitte. Nur topologisch lässt sich das Zusammenwirken der Vier veranschaulichen. Von ihm aus, dem irdischen Nullpunkt des Zahlenkreuzes des Rades und Aszendenten des Urhoroskops, gliedern sich die Landschaften von Westen nach Osten. Daher kann die persönliche Entwicklung nur aus dem Widder ansetzen, als Befreiung des Ich aus der Herrschaft der Gattung und damit aus allen Machtstrukturen.

Wir müssen im heute missverstandenen Islam ihn im Zusammenhang mit der jüdischen und christlichen Überlieferung im Symbol der Dreieinigkeit betrachten, von Vater, Sohn und Heiligen Geist. Der Vater wurde als Stimme und Kraft, als Herr erlebt, Ursprung aller Ichhaftigkeit, wie er sich im Sinai dem Moses offenbarte als der: Ich werde dasein als der Ich dasein werde. Vorher verkörperte er sich in den Elohim, der Summe der Schöpfungskräfte. In Christus wurde Gott menschlich sichtbar, verkündete die Liebe als Vollendung des Gesetzes, also einer auf Gott geeichten Lebensform. Mohammed war nach islamischem Glauben die Inkarnation des Parakleten, des Heiligen Geistes.

Islam bedeutet Gottoffenheit. Was immer geschieht, ist eine Frage Gottes, auf die der Mensch antworten soll. Die Sharia, das offenbarte Gesetz mit den fünf Säulen — dem Gebet, dem Bekenntnis, dass Mohammed ein Gesandter Gottes sei, dem Ramadan als Erinnerung an die Flucht von Mekka nach Medina, gefeiert in zwölf Nächten und elf Tagen, die das Mondjahr vom Sonnenjahr trennen, ferner die Wallfahrt nach Mekka und die Almosen für Witwen und Waisen, die später in Steuern umgewandelt wurden — gaben die Möglichkeit für den einfachen Menschen sein Leben auf das künftige abzustimmen. Doch der esoterische Schwerpunkt des Islam bildeten die Sufis, besonders die Bruderschaften, aus denen dann später im Abendland der Ethos der Ritter und Handwerker entstand. Im Enneagramm wurde das Wissen der Vorzeit mit der neuen Offenbarung verbunden, die man aber nicht als Revolution verstand, sondern als Erfüllung der ewigen Religion.

Für die Wassermannzeit ist die Betonung der Sufis wesentlich, dass der Mensch seine Erfüllung nicht durch moralische Läuterung, sondern durch Meisterschaft im Handwerk, durch seine sprachlich künstlerische Leistung erreicht, die alle Gebiete umfasst. Immer wieder wird in islamischen Ländern der Hadith des Propheten zitiert: Ihr sollt alles Wissen heimholen, auch wenn es sich in China befindet.

Mit dem Fortschritt der politischen Entwicklung und nach der mongolischen Eroberung geriet dieser Aspekt in den Hintergrund und ist erst in der Gegenwart durch Gurdjieff und andere wieder bewusst geworden.

Die Menschlichkeit und Offenheit der Moslems — wo sie nicht fundamentalistisch unterdrückt werden — ist das Tor zu einer Entwicklung, die sicher in einigen Jahren jedem offen stehen wird, wenn die Macht endgültig von der Hierarchie auf die Weltdemokratie im Sinne der drei großen Planeten angegangen sein wird. Aber heute schon kann in nicht fundamentalistischen Ländern der Weg immer besser geklärt werden. Damit wird das Lernen des III. Hauses von der akademischen Sterilität in die Menschwerdung überführt, wie dies in kleinen Kreisen der westlichen Welt schon selbstverständlich geworden ist.

Im Wassermannland wurde das Rad zur Tafelrunde des König Artus, zur Gralsuche des Parsival im Zusammenwirken mit Merlin, der das vorschriftliche Wissen der Kelten besaß und magisch daraus wirken konnte. Im Fischebereich wurden die Tierkreisfiguren zu Göttern und dramatischen Mythen, dank derer man sich aus der Banalität des Alltags auf die Höhe der olympischen Heiterkeit erheben konnte, und mit Ptolemäus wurde die Astrologie zum kulturellen Raster der Berufe und Lebensgebiete. Im Judentum der Widderzeit wurden die Zwölf als Söhne Jakobs zu Charakteristiken verschiedener Arten der Menschwerdung, und in den zwölf Aposteln Christi zum Ansatz möglicher Nachfolge, wobei aber der entscheidende Schritt im Verlassen der jüdischen Volksreligion durch den Heidenapostel Paulus vollzogen wurde. Die Thematik des V. Hauses, Gotteskindschaft und Sexualmoral, wurde mit der Eucharistie zum Schwerpunkt der Religion. Die drei Personen der einen Substanz Gottes verwirklichten sich in den drei Bekenntnissen:

  • orthodox fließt die Gnade von der Kraft des Vaters,
  • katholisch historisch aus Vater und Sohn, und
  • evangelisch aus der Schrift, die — wie der Koran des Propheten — als Wort Gottes verstanden wurde und mit der Lutherübersetzung der Bibel eine eigenständige Religion entwickelte.

Im sunnitischen Islam des Widderlandes lag der Schwerpunkt auf dem Gesetz, der Sharia, Mystiker wurden verfolgt. Doch in Persien, in der apostolischen Nachfolge des Propheten durch Fatima und Ali entfalteten sich zwei Richtungen der Schiiten: die zwölf Imame, deren letzter verborgen ist und erst nach der Geschichte erscheint, und die sieben nach der Ordnung der Chakras. In der siebenfältigen ismaelitischen Ordnung war der entscheidende Schritt die Verkündigung der großen Auferstehung am 8. August 1164 nach unserer Zeitrechnung. Fortan liegt die Verantwortung für das richtige Befolgen der Offenbarung nicht mehr bei den Propheten — das Siegel der staatlichen Prophetie als Gesetzgebung war Mohammed — sondern im Walayat, den Freunden Gottes, deren Bedeutung über die Prophetie hinausgeht.

  • Prophet ist persönlich, wer eine Offenbarung erfährt;
  • Nabi, legislatorisch, wer eine neue Ordnung einleitet; und
  • Walayat, Freund Gottes, wer sowohl den verborgenen geistigen Sinn, also das Rad versteht und eine neue Gemeinsamkeit, eben die der Freunde Gottes auf die Welt bringt.

Die zwölf Inbegriffe des Rades werden durch wollen, beinahe Suggestion verwirklicht, und der Islam wandelte sich von Gottoffenheit in die Forderung von absolutem Gehorsam, im astrologischen Sinn des nördlichen Mondknotens Rahu, der Kopf nur für die anderen, nicht aber für sich selbst sein darf; denn niemand darf die Offenbarung usurpieren.

  • Gabriel bedeutet Wort Gottes, das zusammen mit der Kaaba den Menschen immer wieder auf den Weg zurückführt.
  • Uriel im Wassermann ist das Licht Gottes,
  • Raphael, Gott heilt im Löwen die Gotteskindschaft, und
  • Michael mit der Frage Wer ist Gott — christlich wer ist wie Gott — der Verkörperer des Göttlichen im Adler-Skorpion, durch Zeugen für Gott und Aufsichnahme des Todes, wie es der Märtyrer zeigte.

In der jüdisch-christlich-islamischen Tradition ist alles Wissen enthalten für Menschen, die den Weg des Glaubens und nicht der Weisheit gehen. Auch die vier Evangelien wurden nach den Erzengeln gegliedert: Matthäus im Wassermann, Johannes im Adler-Skorpion, Markus im Löwen und Lukas im Stier mit den Wundern Christi. So war es auch christlich möglich, einen weiteren Sinn hinter der Schrift zu finden und die Esoterik zu wahren — sei es in der orthodoxen Kirche in der persönlichen Heiligung, sei es katholisch in der mystischen anagogischen Auffassung des Meister Eckhart.

Im Wassermannland wird die geistige Auferstehung durch die wissenschaftliche Wahrheit erreicht, im Fischeland durch Kunst und Kultur, doch im Widderland durch die Bruderschaften, deren Nachfolger im Ideal des Ritters — im Zusammenhang mit dem Nibelungenlied und dem Artuskreis — schließlich in den Rosenkreuzern, in den Illuminaten und den Freimaurern endeten, deren letzte große politische Leistung die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika war: Gott als der Weltenbaumeister, an dessen Werk der einzelne Bruder mitwirkt.

Aufs persönliche Leben übertragen, erscheint das Pleroma des Wassermanns in der Frage nach dem persönlichen Sinn und Wissen, der heilende Lebensstil in den Fischen in der Weltkultur, und die echte Nachfolge der Offenbarung anstelle einer Hierarchie in den Bruderschaften, deren letzter Vertreter Gurdjieff war. So ist der erste Häuserquadrant bis zum Widder heute persönlich zugänglich, und wir wenden uns nun dem zweiten zu: IV. Stierland, Indien und Tibet; V. Zwillingsland, China und Indonesien, VI. Krebsland, Japan und Australien.

Mein Vater nahm als Motto seines Reisetagebuch eines Philosophen den Satz des Apostel Paulus: Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum. Der Mensch der Wassermannzeit kann unterhalb des kosmischen Gewahrseins und der Weltkultur keine persönliche Verwirklichung als Vereinigung von Selbst und Ich zum Wesen in der Teilhabe Gottes ohne die globale technische Zivilisation mehr finden.

Arnold Keyserling
Strahlen der Wahrheit · 1996
Von der globalen Zivilisation zur transzendentalen Weltkultur
© 1998- Schule des Rades
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