Schule des Rades

Arnold Keyserling

Strahlen der Wahrheit

IV. Offenbarung der Erde

Krebsland - Mond

K r e b s l a n dVon der Geopolitik her kommen wir im Übergang vom Zwillingsland zum Krebsland von der östlichen in die westliche Hemisphäre, wo die Gemeinschaft die einzelnen prägt. Das VI. Haus mit dem Schwerpunkt auf Arbeit, Geld und Wirtschaft ist die Grundlage der Wassermannzeit, die mit allen Planeten um 15° Wassermann mit Ausnahme der drei Denkplaneten geographisch mit einer absoluten Sonnenfinsternis am Übergang Krebs-Löwe über Neuguinea stattfand, und schon damit den entscheidenden Schritt der Menschwerdung bestimmte.

Japan ist in der industriellen Entwicklung das einzige Land, das durch Shinto die Geistigkeit nicht der Aufklärung geopfert hat, wenn es auch infolge seiner Abgeschlossenheit und Inselmentalität, und dem Festhalten an allen Traditionen heute (1996) eine noch größere Schwierigkeit hat aus dem hierarchischen Modul herauszutreten zur individuellen Entwicklung der Wassermannzeit als andere Kulturen. Selbst die technologische Entwicklung wird dadurch behindert, die Krise der Neunzigerjahre hat auch die japanische Gesellschaft ergriffen, und immer mehr japanische Studenten versuchen sich durch Studium an anderen Orten der Welteinheit zu öffnen — wissenschaftlich in Westeuropa, künstlerisch musikalisch in Mitteleuropa, technologisch wirtschaftlich in USA, und unternehmerisch in Südamerika.

Gehen wir vom chinesischen und indonesischen Chi aus. Diese sind erübbar und erkennbar, keine personal-animistischen Kräfte. In Japan ist der zentrale Begriff Kami, der hunderte von Bedeutungen hat: Charisma, Vitalität, Gottheit, Dämon, wirkende Kraft, die durch Erkenntnis gezähmt und eingesetzt werden darf.

Der Shintoismus bezieht die ganze Natur in das Göttliche ein. Durch Rückführung der kaiserlichen Tradition auf die Sonnengöttin, also auf die Vereinigung mit dem Licht als Ursprung und Ziel — Land der aufgehenden Sonne — ist die Welt nicht von Seelen, sondern von Göttern belebt, die durch elaborierte Riten in Helfer verwandelt werden können, aber letztlich Subjekte sind. In Europa sind die Götter transzendent, da das Individuum im Vordergrund steht. In Japan ist die Kollektivität entscheidend bis zu verschiedenen Sprachen und Alphabeten für verschiedene Klassen der Gesellschaft, sogar in der Zählweise. Diese Einstellung ermöglicht dem Japaner in der Technik ebenso wie in der Kunst eine ungeheure Lernfähigkeit zu entfalten, da es ja auch bei der Konstruktion einer Maschine darauf ankommt, in unserer Sprache ihren Geist, japanisch ihr Kami zu erkennen und sie wie einen gezwergten Bonsaibaum zu einer eigenen Vollendung zu bringen. Ein Shintoismus ebenso wie eine Kabukivorstellung sind unglaublich komplex, aber der Zuschauer und der Lernende wissen genau, wo die Kreativität nach erreichter Meisterschaft einsetzt.

Der japanische Zen ist leichter zu assimilieren als der chinesische Chan. Er lässt sich in einfachen Worten und Gesten beschreiben, die eine innere Vornehmheit besitzen, wie dies in den Übersetzungen von Graf Dürckheim zum Ausdruck kommt. Kami ist eine auf der Erde mittels Naturwesen oder Kunst wirkende Kraft mit der Wurzel im Chaos, also nicht determiniert. Die Elektronik ist den Japanern ebenso wie der Computer selbstverständlich, und die Arbeitspyramide ist umgekehrt zur europäischen. Jeder einfache Arbeiter kann zum Gelingen eines Produkts beitragen, die Firmen bekümmern sich um das Wohlsein ihrer loyalen Angestellten bis zur Manipulation, aber ohne kommunistische Ideologie wie in China. Die japanische Sprache nimmt als Prädikat jedes Satzes sein oder nichtsein, drückt also reine Bedeutungsvorgänge wie etwa das deutsche Streben durch adverbiale Konstruktionen aus. Sie entspricht also dem logischen Ideal von Frege und Carnap. Beispiel von Frege: mein Vater starb gestern, wird logisch in der Form der gestrige Tod meines Vaters ist eine Tatsache. Kein Wunder, dass die europäische Technik und Industrialisierung leicht seit der Öffnung im vorigen Jahrhundert rezipiert wurde, und dass nach der vollständigen Zerstörung der Infrastruktur durch Appell an die menschliche Qualität nach 1945 ein beispielloser Wiederaufbau begann.

Doch heute muss auch Japan sich der Weltganzheit öffnen und das nur-japanische als private Kultur in den großen Zusammenhang einbringen. Aber jeder kann das Verständnis der Geister, des Kami erlernen, wenn er diesen Grundbegriff japanischer Geistigkeit auch für sich akzeptiert. Er bedeutet, das Durchstoßen der Mondvorstellung, so wie man immer wieder bei biographischen Vorträgen von japanischen Zuhörern gefragt wird: War er durch?

Das Durchstoßen der Vorstellung ist bei den asiatischen Buddhisten der Weg zur Erlösung, zur Reinheit und dem Nichts, im Shintoismus aber Befreiung durch Vollendung der Gestaltung. So kann jeder Weltbürger aus der japanischen Einstellung lernen, wie er vor schier unüberwindlichen Gehäusen und Sachzwängen zu seiner Individualität und zur sachlichen Freundschaft findet, und aus nationaler oder wirtschaftlicher Vereinzelung in die große Gemeinsamkeit mündet.

In höherem Maße als in Japan, das kaum zweitausend Jahre Geschichte kennt, ist die Überlieferung von Australien für die Wassermannzeit, das als einzige Erdkultur achtzigtausend Jahre bis in die Altsteinzeit zurückgeht und erst in den letzten Jahrzehnten gewürdigt wurde. Der Uluru (Ayers Rock), gelegen am Wendekreis des Steinbocks und am Schnittpunkt von Zwillinge und Krebs, ist der heilige Berg, der Mond und Erde verbindet, wo also die Phantasie des Mondes die Vielfalt der irdischen Fauna und Flora in den Gesängen — den Songlines der Traumzeit — prägte.

Die Kosmogonie der Australier geht davon aus, dass der Gesang die Welt geschaffen hat. Aus Erdlöchern entsprangen die ursprünglichen Geister, die dann die Tiere und die Menschen ersangen. Tiere und Menschen bilden eine Einheit und jede Tiergattung ist eine Naturverbindung zu einer Menschengruppe. Jeder Aborigine besitzt ein Stück eines Gesanges. Im Walkabout gehen sie zu bestimmten Zeiten diesen Weg ab. Heute werden die Traumpfade von der australischen Regierung beschützt, so dass niemand einen Weg verbauen und die Menschen bei ihrem Ritus stören darf. Der heilige Berg ist wieder unter der Verwaltung der Ureinwohner. Die Großeltern inkarnierten sich immer in die Enkel, darum blieb bis vor kurzem die Eingeborenenbevölkerung konstant, wenn auch manche Häuptlinge heute beklagen, dass viele nicht mehr im Stamm sondern als Weiße wiedergeboren werden wollen.

Die Grundlehre besagt, dass die Erde für jeden ein Auskommen biete, es also nicht der Planung, sondern der Einstimmung bedarf. Die Tiere zeigen einem, wie das Überleben auch in der Wüste möglich ist. Das Buch Traumfänger der amerikanischen Ärztin und Sozialhelferin Marlo Morgan hat ihre Weltanschauung verdeutlicht. Sie beschreibt romanhaft, wie sie mit einem Stamm von wenigen Leuten durch die Wüste geht, ohne Nahrung mitzunehmen, und damit versteht, dass die Erde immer genug Nahrung für alle hat, wenn keine Verbrecher dieses Gleichgewicht stören. So wird die australische Überlieferung für die Arbeitswelt in verwandelter, durch denken geklärter Form, eine entscheidende Bedeutung gewinnen.

Wie Europa und Afrika, China und Indonesien, Nordamerika und Südamerika, bilden auch Japan und Australien eine echte Zweiheit im Sinne des Wassermannsymbols; einerseits Meisterung der denkerisch-technischen Welt durch Eindringen in ihre geistige Substanz, sodass die Konstruktion einer Maschine einem Shintoritus gleicht, andererseits die Gewinnung des Urvertrauens, dass alle irdischen und geistigen Wesen dem Menschen helfen, glücklich zu überleben. Hier ist die negative Hierarchie der kolonialistischen missionarischen Besetzer bereits in ihrer Macht gebrochen. Der Wandlungsprozess wird wie auch in China wohl mehrere Generationen dauern, aber wir können aus der Weisheit des Rades bereits eine Form erahnen, wie die Wurzel der Altsteinzeit uns deren Vitalität wieder zugänglich macht — nicht durch die Kamis, die göttlichen Wesen Japans, sondern durch Riten der Einstimmung. Diese Zukunft ist nicht synkretistisch als primitive eklektische Synthese zu erreichen, sondern durch die Ergänzung der zwölf Weltkulturen, von denen jede einen anderen unmittelbaren Weg zur Transzendenz eröffnet, sobald Imperialismus, Nationalismus und Kolonialismus auf Grund geistig wissenschaftlicher Einsicht endgültig der Vergangenheit angehören.

Arnold Keyserling
Strahlen der Wahrheit · 1996
Von der globalen Zivilisation zur transzendentalen Weltkultur
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD