Schule des Rades
Arnold Keyserling
Strahlen der Wahrheit
II. Zeugende Zahlen
Drei
Eins ist der Grundton, zwei die Oktave, drei die Quinte, die nach zwölf Schritten wieder zur Prim als Tonwert zurückkehrt. Drei ist die erste Bewegung, die Dialektik. Der erste Schritt ist die Ausgangslage, welche nach dem dritten, dem Ziel strebt, das über den zweiten, die Methodik erreicht wird.
Wenn ich drei Punkte miteinander verbinde, dann entsteht zwischen ihnen die Fläche, also die zweite geometrische Raumdimension als Voraussetzung allen Denkens. Nur die Flächenzahlen sind vernünftig zu begreifen, deshalb bezeichnete sie Pythagoras als rational: die Ergebnisse von Division und Multiplikation, die Brüche und Produkte.
Bei den Indianern heißt es: alles was gelingen soll, muss man dreimal unternehmen. In der Astrologie und der kosmischen Religion sind die drei Tage der Verfinsterung des Mondes das Zeichen für Neuanfang und Themenwechsel.
Christus weilte drei Tage in der Unterwelt; am dritten Tage ist er wieder auferstanden von den Toten. Gott wird dreieinig verstanden, als eine Substanz und drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, oder indisch als Brahma der Schöpfer, Vishnu der Erhalter und Shiva der Zerstörer. Das menschliche Gemüt wird dreifältig verstanden: die indischen Gunas, Sattwa, Freude und Helligkeit, Rajas, Leidenschaft und Kraft, und Tamas, Dumpfheit und Trägheit. Philosophisch bedeutet drei die Notwendigkeit der Vereinigung von Körper, Seele und Geist; im gurdjieffschen Enneagramm unterscheidet das Dreieck der solaren Intentionen den erwachten Menschen von der tierhaften Sechsfältigkeit der lunaren Motivationen.
Divisionen durch 3 ergeben einen unendlichen Bruch, der die gleiche Ziffer immer wiederholt.
Drei ist Erkenntnis, die planetarische Entsprechung ist Uranus, dessen Umlauf dem Tonkreis des Quintenzirkels entspricht. Temperiert, umfasst dieser gegen den Uhrzeigersinn 84 Töne und im Uhrzeigersinn der Quarten 60 Töne. Das erste ist das Maß des Lebenskreises, das zweite das Grundmaß aller Geschichte.
Ich kann die 3 als Dreieck veranschaulichen, aber auch übereinander setzen. Substanziell zeigt die Dreiheit das Selbst mit dem Schwerpunkt im Körper, das Ich mit dem Schwerpunkt im Geist und das geprägte Wesen der Seele als Vereinigung der beiden.
Die Entfaltung des Denkens ist nicht naturgegeben, der Mensch kann von den Trieben gelenkt, den Schritt zur geistigen Befreiung verfehlen. Chinesisch äußert sich die Dreiheit als Erde, Mensch und Himmel und der einzelne muss die Natur durch seine Arbeit zur Kultur vollenden. Das Dogma der Dreieinigkeit offenbart sich nicht von selbst, sondern die Erkenntnis muss gewollt werden im Glauben, dass es Gott in all seinen Formen als Zusammenhalt des Seins im All, als große Singularität gibt. Nur der Wille vermag das Obere und das Untere im Werk der Sonne zu vereinen, wie die Smaragdtafeln des Hermes Trismegistos lehren.
Die rationale Welt der letzten fünfhundert Jahre beschränkte sich auf drei Raumdimensionen und vergaß die vierte, das energetische Kontinuum der Zeit. Diese falsche Dreiheit fesselte den Menschen an die Tierwelt. Der Aggressionstrieb des Territorialinstinkts und des hierarchischen Instinkts wurde im Darwinismus zur Grundlage der Gesellschaft.
Drei ist Bewegung, zeigt sich im Zeitwort in seinen drei syntaktischen Arten: intransitiv, transitiv und modal, oder als sein, haben und werden in den Hilfszeitworten.
Der platonische Dialog Timaios beginnt mit der Frage: eins, zwei, drei — wo ist der Vierte? Dies wurde zum Ansatz der jungschen Psychologie, denn mit der Vier erscheint auch die ungreifbare fünfte Mitte.