Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Uhrmacher

1. Die Prager Esoterik

Lebendige esoterische Tradition

Dieser christliche Weg der Erkenntnis — Gnosis entspricht nicht nur etymologisch, sondern auch bedeutungsmäßig der indischen Gnana — wurde nun von der Großkirche mit ihrer legalistischen Auffassung verdrängt. Anstelle des Mystagogen und der subjektiven Wandlung als Weg trat das geweihte Priesteramt der Kirche; anstelle der Erkenntnis trat schon mit Tertullian der blinde Glaube, und anstelle der Erwartung des vollendeten Endzeitmenschen die juristische These, dass Christus mit seinem Opfertod die Ungehorsamkeit des ersten Menschen, also die Erbsünde, für alle, die an ihn glauben, gesühnt hat. Damit wurde die gnostische Bewegung vor allem im römisch westlichen Bereich verdrängt und verdammt. Nur an zwei Orten erhielt sie sich in neuplatonischer Prägung: im westlichen Irland, wohin die johannäischen Mönche während der Völkerwanderung geflüchtet waren, und ferner unterschwellig in Byzanz, dessen Theologie zwar auch die Gnosis verdammt hatte, doch den Neuplatonismus in Form der Lehre des Dionysius Areopagita gelten ließ.

Von diesen beiden Polen aus geschah nun die entscheidende Tat, welche die lebendige esoterische Tradition über das Mittelalter in die Neuzeit zu retten vermochte: während Westeuropa ganz dem römischen Christentum zufiel, wurde in Böhmen sowohl von irischer Seite, als auch von Byzanz über Cyrill und Methodius eine Synthese des alten astralkosmisch orientierten slawischen Volksglaubens und der neuplatonischen Theologie geschaffen. Damit trat eine neue Komponente in die europäische Geschichte, deren Bedeutung erst unserer Zeit in ihrer Tiefe klarzuwerden beginnt. Die drei europäischen Kulturkreise: der mittelmeerisch lateinisch-griechische, der westlich und nördlich germanische und der östlich slawische fanden einen verschiedenen Weg zur christlichen Bekehrung.

  • Im Mittelmeerraum war das mythische Denken der Antike durch das logische der Vorsokratiker und der klassischen griechischen Philosophie abgelöst worden, das sich zu ihm in Gegensatz wusste. Die alexandrinischen Theosophen versuchten aus dem logischen Bereich eine Brücke zur Transzendenz zu schlagen; doch die tragende Rolle erhielt, wie schon geschildert, das legalistische Christentum von Byzanz, das die esoterischen Bewegungen und die Philosophie in den Untergrund verbannte.
    Im Vordergrund stand die Vorstellung einer religiösen Rechtsgemeinschaft zwischen Mensch und Gott, die durch Adams Ungehorsam zerstört und durch Christi Opfertod für die Gläubigen wieder hergestellt wurde.
  • Im germanischen Bereich dagegen war das Christentum als Überhöhung des Mythos gekommen, als mythische Herrschaftsablösung: wie bei den Griechen der Kronos den Uranos entthronte, und Zeus wiederum den Kronos, ebenso erwies sich der christliche Gott stärker als die germanischen, deren Herrschaftsende damit schlüssig bewiesen wurde. Der Übergang vom mythischen zum logischen Denken vollzog sich ohne Abfall in die Skepsis im Rahmen der Theologie und Scholastik.
  • Im slawischen Bereich nun, vor allem in Böhmen, herrschte eine ganz anders geartete Weltanschauung: hier war das allgemein asiatische astralmythische Vorstellungsmodell noch wirksam, das im Unterschied zur griechischen und germanischen Mythologie niemals einen Bruch zur Transzendenz erlebt hatte; und in dieses Weltbild ordnete sich die alexandrinische gnostische Interpretation des Christentums ohne Schwierigkeiten ein. Das alte und neue Testament sind bekanntlich voll der astralen Symbole, und die Praxis der Missionierung bezog seit jeher so weit als möglich Elemente des Volksglaubens in den neuen Kultus ein.

So fanden in Böhmen die esoterischen Traditionen eine willige Aufnahme und gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts, zur Zeit Wenzels IV., trat die astrologische Weltanschauung klar an die Öffentlichkeit, da sie sowohl den Glauben als auch das Denken befriedigte. Damit entstand die seit der Antike erste ganzheitliche ungebrochene Kultur am Prager Hof der Premysliden und der Luxemburger, die bis zum Ende der Herrschaft Rudolf II. Prag zum geistig kulturellen Mittelpunkt Europas werden ließ.

Zwei mittelalterliche deutsche Denker waren mit für diese Entwicklung von entscheidender Bedeutung: die Dominikaner Albertus Magnus und Meister Eckhart. Albert dem Großen war es gelungen, nicht nur die christliche, sondern auch die neuplatonische und arabische esoterische Tradition in sein Weltbild einzubauen, wobei er Alchemie und Astrologie im gleichen Maße in seiner Summe berücksichtigte, wie die scholastische Theologie. Und während seine Lehre im Westen und Süden durch die seines brillanten Schülers Thomas von Aquin verdrängt wurde, blieb sie im Norden und Osten von entscheidender Bedeutung für die Formung des gotischen Weltbildes. Seinem anderen berühmten Schüler, Meister Eckhart, der lange Jahre in Prag als Ordensprovinzial gewirkt hat, gelang die entscheidende Formulierung, mit der die esoterische Tradition eine neue Richtung erhielt: über Albert hinausgehend bestimmte er die Erlösung des Menschen als bewusste Teilhabe an der Schöpferkraft der Dreieinigkeit im Gegensatz zur traditionellen Kontemplation. Hören wir ihn selbst im wesentlichsten Abschnitt einer seiner Predigten:

Spricht die Seele, als Braut im Hohenliede: ‘Ich habe nun den Kreis der Welt umlaufen und konnte ihn doch nie zu Ende kommen. Darum habe ich mich in den einigen Mittelpunkt geworfen, denn der hat mir’s angetan mit seinem Anblick.’
Der Kreis, den die liebende Seele durchlaufen hat, ist die hochwürdige Dreifaltigkeit und alles, was sie geschaffen hat in Zeit und Ewigkeit. Das zusammen heißt mit Recht ein Kreis. Denn in alle Geschöpfe, und besonders in die mit Vernunft und Rede begabte Seele, haben die göttlichen Personen ihr Eigenbild geprägt. So ist also die heilige Dreifaltigkeit aller Dinge Ursprung: Und alle Dinge stehen danach, wieder heimzugelangen in ihren Ursprung. Das ist also der Kreis. Und durchlaufen hat die Seele den mit ihren Gedanken, wenn ihr aufgeht: diese ganze erschaffene Welt — tausendmal mehr könnte Gott erschaffen, wenn er nur wollte! Und doch kann sie an kein Ende kommen: Das Allergeringste, das er je erschuf, mit dem kann sie nicht zu Ende kommen, noch es ergründen in seiner Herrlichkeit. Wenn sie so den Kreis eifrig durchläuft und ihn doch nicht zu schließen vermag, dann wirft sie sich in seinen Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt ist das Schöpfungsvermögen der Heiligen Dreifaltigkeit, kraft welches die drei selber unbewegt alle ihre Werke vollbracht haben. In ihm wird nun auch der Seele schöpferisches Allvermögen zuteil.
Denn die Dreifaltigkeit ist zugleich die Welt, weil alle Geschöpfe in ihr angelegt sind. Und zwar sind die drei nur ein einziges schöpferisches Vermögen. Dies ist der unbewegliche Punkt, dies die Einheit in der Dreifaltigkeit. Von innen, in der Gottheit genommen, ist sowohl das Wirkende wie das Werk veränderungslos. In diesem Punkte durchläuft Gott Veränderung ohne Anderheit und schließt sich mit ihm zusammen zur Wesenseinheit. Wenn auch die Seele hingegen eins wird mit diesem unbeweglichen Punkte, so trägt sie mit ihm der Welt Schöpfermöglichkeit in sich.

Heute sind wir in der Geistesgeschichte gewohnt, den entscheidenden Schritt der Erkenntnis von der schöpferischen oder unendlichen Natur des menschlichen Wesens dem Philosophen Ludwig Feuerbach zuzuschreiben, der im Gegensatz zur idealistischen Tradition die unendliche Produktivität als Wesenskennzeichen des Menschen bezeichnete, welche dieser fälschlich außer sich in die Transzendenz der Gottheit projiziert habe. Feuerbachs Gedanke war jedoch nur ein später und einseitig polemisch formulierter Nachvollzug derjenigen Wandlung, die Meister Eckhart im religiösen Denken im Einklang mit der mittelalterlichen Freigeistbewegung durchgeführt hatte und die folgendes Ergebnis zeitigte: wenn der Mensch als Eigenschöpfer die Gottähnlichkeit erreicht, dann gilt es die Wege der Gestaltung bis ins einzelne nachzuzeichnen und zu bestimmen.

Ähnliche Gedanken bewegten die Florentiner Humanisten wie Pico della Mirandola und auch später Albrecht Dürer; erinnern wir uns an seinen Ausspruch: wenn ein Künstler die schöpferischen Grundideen, von denen Platon sprach, wirklich besäße — also in neuplatonischer Fassung die rationes seminales — dann könnte er Kunstwerk auf Kunstwerk gestalten, ohne je seinen Quell zu erschöpfen. Dürer suchte viele Jahre erfolglos nach Menschen, welche dies Wissen besäßen; schließlich versuchte er es in seiner Lehre von den Grundproportionen selbst zu erstellen. Doch in Nürnberg war das esoterische Gedankengut damals noch zu wenig mit dem theologisch philosophischen Denken amalgamiert, als dass es zu einer bleibenden Wirkung hätte gelangen können. Anders stand es im Prag des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Hier wurde unter der Schirmherrschaft Kaiser Rudolf II. bewusst eine neue Synthese der gnostischen Wege in künstlerischem Geist versucht und auch durchgeführt.

Arnold Keyserling
Der Uhrmacher · 1988
Von Gustav Meyrinck
© 1998- Schule des Rades
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