Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Uhrmacher

1. Die Prager Esoterik

Teilhabe an der Dreieinigkeit

Meister Eckhart hatte erklärt, dass der Mensch als gestaltendes, als schöpferisches Wesen die echte Teilhabe an der Dreieinigkeit erreicht. Doch wie ließe sich dies Postulat erfüllen? Hierzu müssen wir das Anliegen und die Methodik der gnostischen Wege erhellen.

Im 19. Jahrhundert war man gewohnt, diese Richtungen als Scharlatanerie abzutun und die Lösung der Chemie aus der Alchemie, der Astronomie aus der Astrologie, und der Altphilologie aus der Theologie und Kabbalistik als unbedingten Fortschritt zu feiern. Mit der Entdeckung der Tiefenpsychologie hat sich die Auffassung radikal gewandelt; in den esoterischen Bewegungen allein ist das gesamte psychologische und medizinische Wissen seit der Antike, ja seit der Vorzeit, wenn auch in verschlüsselter Form, enthalten. Ihr Anliegen war keineswegs die bloße Goldmacherei bei den Alchemisten, die Magie bei den Kabbalisten oder der vulgärastrologische Aberglaube im heutigen Sinn: allen ging es darum, das menschliche Bewusstsein, welches als Teilhabe am göttlichen Urlicht definiert wurde, durch klare Methodik aus der Verhaftung an Triebe und Vorstellungen zu lösen. Am Hof Kaiser Rudolfs traten die Führer all dieser Bewegungen 1608 zum ersten, aber damit auch gleich zum letzten Gespräch zusammen: die Astronomen und Astrologen Tycho Brahe und Johannes Kepler, der jüdische Kabbalist Rabbi Loew, und die Alchemisten Hayek und John Dee.

Durch die Revolution des Kopernikus war das pythagoräische Weltbild wieder hergestellt und aus der falschen ptolemäischen Auffassung befreit worden. Kepler gelang es, aus der pythagoräischen Harmonik die tatsächlichen Gesetze der Umläufe zu erklären und damit auch den Sinn der Astralpsychologie freizulegen: die Sonne galt in der menschlichen Psyche als Entsprechung des Wesenskerns, Träger der Kraft der Konzentration und Aufmerksamkeit. Dieser hieß es nun die verschiedenen psychischen Eigenschaften und Begabungen, wie die marsische Aggressivität und Initiative, die venusische Gestaltungskraft, die saturnische Verantwortung, die merkurische Urteilskraft, die lunare Einbildungskraft und die jupiterische Autorität dienstbar zu machen.

Rabbi Loew hatte die Tradition des Maimonides, welcher arabische Medizin und jüdische Kabbalistik in eine Synthese zu bringen trachtete, mit der lebendigen jüdischen osteuropäischen Tradition verschmolzen: das innere Wesen des Menschen sei nicht nur als Urlicht, sondern auch als das innere Wort zu verstehen. Dieses innere Wort, die Sprache, die als Quell aller Dichtung und Gestaltung aus dem Herzen kommt, gilt es durch die kabbalistische Methodik zu wecken, deren Ziel die Unterscheidung mechanischer und schöpferischer Assoziation darstellt. Gelingt dies dem Menschen, dann erst ist er eine wahre Person, ein wahrer verantwortlicher Mensch, der auch imstande ist im Gebet wirklich Gott anzusprechen. Solch ein Mensch wird eines derart persönlichen Verhältnisses zu Mitmensch und Natur fähig, dass er das Charisma des Heilers erwirbt.

Den Alchemisten ging es nicht so sehr um praktische Goldgewinnung als vielmehr um die Erringung der Urmaterie, um zum Quell der Natur und damit auch der Gestaltung vorzudringen. Der philosophische Ursprung dieser Lehre liegt in der aristotelischen Dualität von Form und Stoff: da sowohl in der christlichen als auch in der mohammedanischen Theologie Gott als Substanz dem Formprinzip zugrunde liegt, muss es auch eine Urmaterie geben: das alchemistische Gold, aus dem alle Stoffe durch Spaltung oder Vereinigung entstehen. Hieraus entstammt die Doppelbedeutung des Wortes Läuterung: nur der Mensch, der in sich zum Urquell seines Bewusstseins durch Reinigung von allen seelischen Schlacken durchstößt, kann auch die Materie in ihren Urzustand versetzen und die Tinktur gewinnen; das heißt dasjenige Gold, welches andere Materie wiederum in Gold verwandeln kann. Auf die psychische Ebene übertragen: Nur wer zum Wesensquell, zur wahren Schöpferkraft vorgedrungen ist, kann selbst auch andere auf diesem Weg führen und zur ganzen Persönlichkeit durch Individuation und Heilung verhelfen.

Kaiser Rudolf vertrat den Pol der kosmischen Herrschaft, die für Einklang der astralen Rhythmen, der menschlichen Tätigkeiten und der religiösen Riten sowie der künstlerischen Gestaltung als Kultur zu bürgen hatte. Dee, Kelley und Hayek legten die alchemistischen Methoden dar, Rabbi Loew die kabbalistisch-medizinische, Brahe und Kepler zeigten den harmonischen Aufbau des Kosmos. Dieses große Treffen der Meister, wie es in der esoterischen europäischen Tradition fortan hieß, war das letzte öffentliche, wenn auch verschlüsselte Auftreten der Gnosis in Europa. Mit dem Ende der Herrschaft Rudolf II. unter der katholischen Reaktion wurden die Bewegungen wieder in den Untergrund verbannt und nach der Schlacht am weißen Berge in alle vier Winde verstreut. In diesem Ende gebaren sie die fünf esoterischen Bewegungen, die die europäische Geistesgeschichte der Neuzeit in hohem Maße beeinflussten: die Pansophen des Comenius, die Rosen- und Goldkreuzer, die Freimaurer, die Illuminaten und die jüdischen Chassidim, die ihre letzte Vollendung nach dem Baalschemtow in Polen zu Ende des 18. Jahrhunderts erleben sollten.

Die esoterischen Bewegungen blieben fortan im Untergrund. Mit Fortschreiten der Aufklärung setzten sich jedoch bei ihnen wie bei den Kirchen die rituellen Elemente immer mehr durch. Die denkerische Substanz hingegen wechselte in die Philosophie über und fand ihre stärkste und klarste Ausprägung in der nationalistischen Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz.

Leibniz war durch seine Herkunft — die Familie hieß eigentlich Lubeniecz und war wohl wendischen Ursprungs — ebenso mit der astralkosmischen Denkweise vertraut wie mit der Mathematik und den Naturwissenschaften seiner Zeit; er studierte die esoterischen Traditionen mit gleicher Gründlichkeit wie die exoterischen Wissenschaften. Durch mehrere Jahre war er Sekretär der Nürnberger Rosenkreuzer, bei denen mehrere der Prager Humanisten Zuflucht gefunden hatten, und verwaltete ihre Arcana, ihre Geheimlehren. Gleich Descartes und auch Spinoza veröffentlichte er wenig von seinen Theorien und Entdeckungen: nur diejenigen Schlüsse, für deren Verständnis er seine Zeitgenossen reif hielt. Wären zum Beispiel seine logisch-mathematischen Schriften nicht erst um 1900 entdeckt und herausgegeben worden, so hätte, wie Bertrand Russell bemerkt, die Entwicklung der neuen mathematischen Logik 250 Jahre früher begonnen. Dennoch helfen uns die bekannten Leibnizschen Begriffskreise, die Aufnahme der Prager Esoterik in das nationalistische System zu verstehen: es sind dies die Monadenlehre, die compossibilitas, die Reifestufen, die prästabilierte Harmonie und die Lehre von der bestmöglichen aller Welten.

Zufolge der Monadenlehre ist die Welt nicht, wie im Newtonschen Denken, auf eherne Gesetze gegründet, sondern beruht auf dem Zusammenwirken von einzelnen Wirkursachen, den Monaden, deren Verhalten frei und unvoraussehbar, also kontingent ist. Jede dieser Monaden bildet einen raumzeitlichen Weltpunkt; doch ist sie auch als Entelechie zu verstehen, das heißt sie strebt nach einer gewissen Vollendung. Vorausbedingung ihrer Existenz ist die Compossibilitas, die Mitmöglichkeit. Im Geiste Gottes besteht eine unendliche Zahl solcher Monaden, von denen aber nur diejenigen in die Wirklichkeit eintreten können, deren Existenz im Zusammenhang mit anderen möglich ist. Hieraus bilden sich die Naturgesetze, die, ganz im Sinne der modernen Naturwissenschaft, nicht die Einzelheit, die kontingente Monade determinieren, sondern das Verhalten von Gruppen regeln; dadurch, dass sie sich als eine Anzahl bestimmen lassen, unterliegen sie dem Gesetz der entsprechenden Zahl — eine Vorwegnahme der eingangs zitierten Wahrscheinlichkeitslogik.

Jede dieser Monaden hat potentielles oder aktuelles Bewusstsein und zeigt eine gewisse Reife, welche Leibniz nach fünf Stufen gliedert:

  1. confusio oder Dunkelheit
  2. cognitio clare oder Begreifen nach Merkmal
  3. distinctio oder begriffliche Bestimmung
  4. adaequatio oder Angemessenheit
  5. visio, die Schau der Urprinzipien der Schöpfung.

In der ersten Bewusstseinsstufe ist sich das Wesen nur undeutlich seiner Existenz und der Wirklichkeit bewusst; es hat sich aber bereits als Monaden etabliert. In der zweiten kann es die Wirklichkeit nach allgemeinen Merkmalen unterscheiden, nach Farben und Formen, wie diese durch die Struktur seiner Sinneswahrnehmung determiniert sind. Erst in der dritten Stufe, der distinctio, erkennt es die Einzelheiten als solche und auch die anderen Monaden, es erlangt Selbst- und Weltbewusstsein.

Damit ist nur die Norm erreicht, noch nicht aber die Entwicklung beendet. In der vierten Stufe gilt es die adaequatio, die Abstimmung und Harmonisierung aller Begriffe philosophisch und systematisch zu erreichen. Die Stoiker sahen in der adaequatio die Voraussetzung des reinen, vernünftigen und damit freien Willens. Doch der Wille braucht noch nicht im Weltenursprung zu wurzeln. Dies geschieht erst in der fünften Stufe der visio, wenn die mathematischen Erzeugungsprinzipien der Wirklichkeit dem Menschen zum Gestaltungsgerät werden, wie es sich Albrecht Dürer mit den platonischen Ideen, den rationes seminales, ersehnt hatte. Die Reifestufen entsprechen unter anderem auch der chinesisch-konfuzianischen Lehre, die damals in Europa bekannt wurde; ebenso den alchemistischen Stufen der Läuterung; die visio ist identisch mit der Erringung des kabbalistischen inneren Worts oder dem mystischen Erreichen des Urlichtes. Aber auch die astrologische Tradition begriff Leibniz in sein System ein: sie findet sich im Begriff einer prästabilierten Harmonie im Zusammenhang mit der Lehre der bestmöglichen aller Welten.

Uns ist die letztere Lehre vor allem durch ihre Verballhornung bei Voltaire bekannt; doch meint sie etwas viel Tieferes: jede der Monaden befindet sich in einem bestimmten Zustand der Reife. Dieser Zustand hat als Koordinaten Raum und Zeit, nämlich die gegebenen Räume und Zeiten, die parallel zueinander verlaufen. Anstelle der newtonschen absoluten Zeit verwandte Leibniz also die pythagoräisch astrologische qualitative Zeit: die Abhängigkeit der Qualität von gegebenen Räumen und Zeiten verstanden im gleichen Sinn, wie sich auch ein Ton als Wechselbeziehung von Maß und Schwingung, also Raum und Zeit begreifen lässt. Aus den Räumen und Zeiten lässt sich das jeweils mögliche, nicht aber das wirkliche Verhalten der Monaden erkennen.

Aus ihrem freien Wechselspiel in der Wirklichkeit der prästabilierten Harmonie ergibt sich nun das bestmögliche Zusammenspiel zu einem gewissen Zeitpunkt der Geschichte der Welt und des Universums; dies ist der Sinn des missverstandenen Satzes, dass unsere Welt die bestmögliche sei. Der Schluss ist unausweichlich, wenn die vier Prämissen der Esoterik akzeptiert werden: erstens, dass die Welt nicht nur materiell, sondern auch im Bewusstsein einen Ursprung hat, dass Gott sowohl formale als auch personale Ursache der Welt ist, die er in der Materie verwirklicht; dass zweitens jedes Wesen für seine Reifung allein verantwortlich ist und diese Bewusstwerdung das Ziel der Schöpfung bedeutet; und dass drittens eine Wechselbeziehung zwischen Quantität und Qualität besteht, so dass jede Qualität einen quantitativen Aspekt hat, andererseits aber jede echte quantitative Beziehung, vor allem von Raum und Zeit, eine qualitative Verwirklichung finden kann; und dass viertens die Erkenntnis dieses letzteren Weges — der im pythagoräischen Sinn esoterischen Methode — den Menschen zur schöpferischen Gestaltungsfähigkeit und damit zu echter Teilhabe an der Unendlichkeit und Unsterblichkeit im Sinne Meister Eckhart befreit.

Leibniz verwandte in seinem philosophischen System nur einen Ausschnitt der gnostischen Lehre, den er reif für die Veröffentlichung hielt; vieles andere, vor allem die psychologischen Erkenntnisse, wurden weiter geheim in den esoterischen Gruppen bewahrt und überliefert. Doch auch die Leibnizsche Synthese selbst trat in den Hintergrund; teils wurde sie missverstanden, teils seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch den Siegeszug der kantischen Philosophie verdrängt. Gleichzeitig aber begannen mit dem Wandel der politischen Verhältnisse die esoterischen Traditionen wieder in Prag gepflegt und ausgebaut zu werden, und um die Jahrhundertwende setzte es sich eine Gruppe zur Aufgabe, ihren Wahrheitsgehalt endgültig zu klären. Ihr bedeutendster Vertreter war Gustav Meyrink: ihm gelang es, in seinem Werk den Kern dieser Lehren von falschem Beiwerk zu befreien und damit das verborgene Wissen all denen zugänglich zu machen, die seine Schriften zu lesen verstehen.

Arnold Keyserling
Der Uhrmacher · 1988
Von Gustav Meyrinck
© 1998- Schule des Rades
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