Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Uhrmacher

3. Der Uhrmacher

Der Uhrmacher I

Die? Richten? Damit sie wieder geht? fragte der Antiquar erstaunt, schob seine Brille auf die Stirn und blickte mich verdutzt an; warum wollen Sie eigentlich, dass sie wieder geht? Sie hat doch nur einen einzigen Zeiger — und keine Ziffern auf dem Weiserblatt, setzte er hinzu, die Uhr beim grellen Schein der Lampe versonnen betrachtend, nur Blumengesichter, Tier- und Dämonenköpfe statt der Stunden. Er begann zu zählen, sah mich fragend an: Vierzehn? Man teilt den Tag doch in zwölf Teile ein. Hab’ noch nie ein so seltsames Werk gesehen. Ich rate Ihnen, lassen Sie sie wie sie ist. Schon zwölf Stunden im Tag sind schwer genug zu ertragen. Von diesem Zifferblatt die richtige Zeit abzulesen? Wer gäbe sich heute die Mühe. Nur ein Narr.

Ich wollte nicht sagen, dass ich ein Menschenleben lang ein solcher Narr gewesen war, nie eine andere Uhr besessen hatte, vielleicht deshalb sehr oft zu früh gekommen war, wo ich hätte warten sollen — und schwieg.

Der Antiquar schloss daraus, ich wolle auf meinem Wunsch beharren, sie wieder gehen zu sehen, schüttelte den Kopf, nahm ein Elfenbeinmesserchen und öffnete behutsam das edelsteinverzierte Gehäuse, darauf in Email ein Fabelwesen gemalt war, auf einer Quadriga stehend: ein Mann mit Frauenbrüsten, zwei Schlangen statt der Beine, einem Hahnenkopf und in der rechten Hand die Sonne, in der linken eine Peitsche.

Vermutlich ein altes Familienstück, riet der Antiquar. Erwähnten Sie nicht vorhin, sie sei diese Nacht stehengeblieben? Um zwei Uhr? Der kleine rote Büffelkopf mit den beiden Hörnern bedeutet doch wohl die zweite Stunde? Ich war mir nicht bewusst, etwas derartiges gesagt zu haben, aber tatsächlich war die Uhr in der vergangenen Nacht um zwei stehen geblieben. Mag sein, ich hatte davon gesprochen, jedoch: ich konnte mich nicht erinnern, ich fühlte mich noch zu angegriffen — ich hatte um dieselbe Zeit einen schweren Herzkrampf gehabt und geglaubt, ich müsse sterben. Im Wanken meines Bewusstseins hatte ich mich noch an den Gedanken geklammert: wenn nur die Uhr nicht stehen bleibt. Im Dämmer meiner schwindenden Sinne musste ich Herz und Uhr in den Begriffen verwechselt haben. Vielleicht denken Sterbende ähnlich. Vielleicht bleiben aus diesem Grunde so oft die Uhren in den Todesstunden ihrer Herren stehen? Wir kennen die magischen Kräfte nicht, die bisweilen einem Gedanken innewohnen.

Es ist merkwürdig, sagte der Antiquar nach einer Weile, hielt sein Vergrößerungsglas in die Nähe der Lampe, so dass der blendende Brennpunkt scharf auf die Uhr fiel, und wies mir eingravierte Buchstaben auf dem inneren goldenen Deckel. Ich las:

Summa Scientia Nihil Scire.

Es ist merkwürdig, wiederholte der Antiquar, diese Uhr ist ein Werk des Wahnsinnigen, ist in unserer Stadt gemacht worden. Ich glaube nicht zu irren. Es gibt nur sehr wenig solcher Stücke. Ich hätte nie gedacht, dass sie wirklich gehen könnte. Hab sie für Spielerei gehalten. Eine kleine Marotte von ihm, in alle seine Uhren die Devise zu schreiben: Höchstes Wissen, nichts zu wissen.

Ich begriff nicht recht, was er meinte; wer mochte der Wahnsinnige sein, von dem er sprach? Die Uhr war sehr alt, sie stammte von meinem Großvater, aber was der Antiquar soeben gesagt, hatte doch geklungen, als lebe der Wahnsinnige, aus dessen Hand sie hervorgegangen sein sollte, noch heute!

Ehe ich fragen konnte, sah ich im Geiste — deutlicher und schärfer, als ginge er durchs Zimmer — einen Mann durch eine Winterlandschaft schreiten, einen schlanken hochgewachsenen Greis, ohne Hut, mit vollem, im Winde wehenden schneeweißem Haar, der Kopf sonderbar klein in Kontrast zu der ragenden Gestalt, das scharfgeschnittene Gesicht bartlos, die Augen schwarz, fanatisch blickend und dicht beieinander stehend, wie die eines Raubvogels. In einem langen, verschabten, verschossenen Mantel aus Samt; wie ihn einst die Nürnberger Patrizier trugen, schritt er einher.

Ganz recht, murmelte der Antiquar und nickte zerstreut, ganz recht, der Wahnsinnige.

Warum sagt er ganz recht? dachte ich bei mir. Es ist ein Zufall, wusste ich sofort; leere Worte sind’s, nichts weiter. Ich habe doch den Mund garnicht aufgetan. Er hat dies ganz recht nur gebraucht wie es so oft geschieht wenn man einen soeben gesprochenen Satz bekräftigen will; es hat keinen Bezug auf den alten Mann, den ich als Erinnerungsbild gesehen habe, keinen Bezug auf den — Wahnsinnigen! Als ich, ein kleiner Junge damals noch, in die Schule ging, immer musste ich an einer langen, kahlen, mannshohen Mauer vorbei, die einen Park von Ulmen umschloss, Jahre hindurch, Tag für Tag war mein Gehen zum Laufen geworden, wenn mich der Weg daran entlang führte, denn jedesmal packte mich eine unbestimmte Furcht. Vielleicht — ich weiß es heute nicht mehr — weil ich mir einbildete — oder gehört hatte — ein Wahnsinniger hause darin, ein Uhrmacher, der behauptete, Uhren seien lebendige Wesen… oder irrte ich mich? Wäre es eine Erinnerung an ein Erlebnis aus meiner Schulzeit, wie konnte es sein, dass etwas, was ich wohl tausendmal gefühlt, bis zum heutigen Tag in meinem Gedächtnis schlummernd gelegen hatte, um jetzt erst mit solcher Lebendigkeit aufzubrechen? …Freilich, wohl vierzig Jahre waren seitdem vergangen; aber gab das eine Erklärung?

Vielleicht habe ich es in der Zeit erlebt, die meine Uhr mehr zeigt als eine gewöhnliche! sagte ich belustigt. Der Antiquar blickte befremdet auf und starrte mich verständnislos an.

Ich grübelte weiter und kam zur Gewissheit: die Mauer, die den Park umschließt, steht heute noch. Wem hätte daran gelegen sein können, sie einzureisen? Damals hat’s doch geheißen, sie sei die Grundmauer einer Kirche, die später zu Ende gebaut werden sollte. So etwas zerstört man nicht! Vielleicht lebte auch der Uhrmacher noch? Sicherlich würde er meine Uhr, die ich so liebte, wieder richten können. Wenn ich nur wüßte, wann und wo ich ihm begegnet war? Es konnte vor kurzer Zeit unmöglich gewesen sein, denn jetzt war Sommer, und in der Erinnerung soeben — hatte ich sein Bild in Winterlandschaft im Geiste gesehen! Zu tief in Gedanken versunken, als dass ich der langen Erzählung hätte folgen können, in der sich, mit einem Male redselig geworden, der Antiquar erging, vernahm ich nur in Pausen einige abgerissene Sätze. Sie rauschten auf mich zu, verstummten und kamen wieder, wie brandende Wellen; dazwischen das Sausen in den Ohren; das Brausen des Blutes, das der alternde Mensch vernimmt, wenn er lauscht, und nur im Lärm des Tages vergisst; — das unablässige, drohende, ferne Sausen des aus den Schlünden der Zeit her langsam sich nähernden Geiers Tod

Ich wusste kaum: war er’s, der da, die Uhr in der Hand, zu mir sprach, oder war’s der Mund jenes Wesens in mir, das zuweilen aufwacht in einem einsamen Herzen, wenn man an die verschlossenen Schreine rührt, die vergessene Erinnerungen heimlich behüten, damit sie nicht zu Moder verfallen? Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich dem Antiquar zunickte und dann wusste ich: er hat etwas gesagt, was mir bekannt gewesen war, aber wollte ich mir die Worte überlegen, so gelang es mir nicht, sie glitten nicht, wie sonst gesprochene Worte tun, in nahe Vergangenheit hinab, aus der ich sie zurückfangen und mit dem Verstehen hätte betasten können — nein, sie erstarrten zu leblosen Gestalten, dem Ohr fremd und unfassbar, kaum, dass ihr Klang erloschen war; ich begriff ihren Sinn nicht mehr; sie hatten sich aus dem Reiche der Zeit in das Reich des Raumes verirrt und umstanden mich als tote Masken.

Wenn doch die Uhr wieder gehen wollte! sagte ich laut in meiner Qual mitten hinein in die Rede des Händlers. Ich hatte damit mein Herz gemeint, denn ich fühlte, es wollte vergessen zu schlagen, und mir graute bei dem Gedanken, der Zeiger meines Lebens könnte plötzlich stehen bleiben vor einer phantastischen Blume, dem Gesicht eines Tieres oder eines Dämonen, wie der Weiser auf jenem Zifferblatt mit den vierzehn Stunden. Ewig gebannt wäre ich in geronnener Zeit.

Der Antiquar gab mir die Uhr zurück — er glaubte wohl, ich spräche von ihr.

Als ich durch die verödeten nächtlichen Gassen schritt, geradeaus, dann kreuz und quer über schlafende Plätze und an träumenden Häusern vorbei, von blinkenden Laternen geleitet und doch meines Weges gewiss, da musste ich denken, der Antiquar habe mir anvertraut, wo der Uhrmacher ohne Namen wohne, wo ich ihn finden würde und wo die Mauer stünde, die den Ulmenpark umschließt. Hatte er denn nicht gesagt, nur der Alte könnte meine Uhr wieder gesund machen? Woher wüßte ich es sonst: auch den Weg zu ihm musste er mir geschildert haben, und hatte ich selbst mir ihn auch nicht gemerkt — meine Füße schienen ihn genau zu wissen: sie führten mich hinaus aus der Stadt auf die weiße Straße, die zwischen sommerhauchenden Wiesen hinein in die Unendlichkeit lief.

An meine Fersen geheftet, glitten die schwarzen Schlangen hinter mir drein, die das grelle Mondlicht aus der Erde gelockt hatte. Waren sie es, die mir die vergifteten Gedanken schickten: Du wirst ihn nimmermehr finden, er ist vor hundert Jahren gestorben!

Um ihnen zu entrinnen, bog ich scharf ab nach links in einen Seitenpfad, und da tauchte auch schon mein Schatten aus dem Boden und schluckte sie in sich ein. Er ist gekommen mich zu führen, begriff ich, und es war mir eine tiefe Beruhigung, ihn so unbeirrbar und, ohne zu wanken, schreiten zu sehen; beständig blickte ich auf ihn hin, froh, des Weges nicht achten zu müssen. Allmählich kam jenes unbeschreiblich seltsame Gefühl wieder über mich, das ich als Kind gehabt, wenn ich für mich allein das Spiel spielte: mit geschlossenen Augen festen Schrittes vor mich hin zu gehen, unbekümmert, ob ich fallen würde oder nicht: — es ist wie ein Losreißen des Körpers von aller irdischen Furcht wie ein Jauchzen des Innern, wie ein Wiederfinden des unsterblichen Ichs, das da weiß, mir kann nichts geschehen! Da ließ der Erbfeind von mir ab, den der Mensch in sich trägt: Der nüchterne, kalte Verstand, und mit ihm der letzte Zweifel, ich würde den, den ich suchte, nicht finden. Dann, nach langer Wanderung, eilte mein Schatten auf einen breiten, tiefen Graben — entlang der Straße — zu, schwand hinab und ließ mich allein; ich wusste: jetzt bin ich am Ziel. Warum hätte er mich sonst verlassen!

Arnold Keyserling
Der Uhrmacher · 1988
Von Gustav Meyrinck
© 1998- Schule des Rades
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