Schule des Rades
Arnold Keyserling
Der Uhrmacher
1. Die Prager Esoterik
Vorgeschichte
Es ist wohl eine Binsenwahrheit, dass wir heute in einer Zeit grundsätzlicher Umwandlungen auf allen Gebieten leben. Die Folgen der Technologie, die Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse sind zu offensichtlich, als dass man darüber noch Worte verlieren müsste. Doch gibt es auch Wandlungen, die nicht so sehr ins Auge springen, weil sie nur eine kleine Gruppe von Menschen angehen. Solch eine Wandlung wollen wir im Folgenden besprechen: nämlich die Veränderung der Beurteilung der esoterischen Traditionen des Denkens in ihrer Bedeutung für die Geistesgeschichte.
Noch im 19. Jahrhundert galt alle Esoterik — unter der wir sowohl das kosmische, astralmythische Denken, als auch die Gnosis, die Kabbala, die Mystik und die Bauhüttenlehre zusammenzufassen pflegen — als krasser Aberglaube. Während der Herrschaft des mechanischen Materialismus, da die lückenlos deterministische Kausalität zum absoluten Kriterium der Wissenschaft aufgestiegen war, machte sich ein Forscher, der eine Beschäftigung mit diesen Gebieten auch nur andeutungsweise verlauten ließ, im Kreise seiner Kollegen unmöglich.
Die erste Wandlung dieser Einstellung kam in der Kunstgeschichte: da es nicht angeht, die Kunst der Antike, des Mittelalters, der Renaissance und des Barock ohne Rücksicht auf die ihr zugrundeliegenden Vorstellungen zu betrachten, begann ein Studium der Bedeutung vor allem der astralmythischen und alchemistischen Symbolsprache; ich möchte vor allem auf die epochemachenden Arbeiten von Delitzsch, Drews, Eisler und Jeremias hinweisen, deren Richtung in vorbildlicher Weise von Stejskal und Krasa fortgeführt wurde. Einen anderen Zugang gewann die vergleichende Religionsforschung und Tiefenpsychologie, von Rudolf Otto und C. G. Jung bis zu Heiler, Mensching und Ernst Benz. Die vergleichende Anthropologie und Ethnologie konnten nachweisen, dass die sogenannte Volksreligion sich immer und überall auf die gleichen Urkomponenten zurückführen lässt, wenn auch die Hochreligionen und Hochkulturen in Symbolsprache und Interpretation voneinander abweichen.
Der europäische Hochmut des 19. Jahrhunderts ist uns nach Erkenntnis des Wesens der alten Kulturen und Mythen weitgehend vergangen; immer mehr setzt sich im Zuge der kulturellen Selbstbestimmung der ehemals kolonialen Völker die Auffassung durch, dass die spezifisch westlich europäische Geisteshaltung, aus der als späte Blüte das zitierte kausalmechanische Weltbild entstand, nur eine bestimmte Facette der Wirklichkeit aufzeigt, die zwar wichtig ist, doch der Ergänzung durch andere bedarf.
Dennoch war es die wissenschaftlich-kritische Geisteshaltung, die Begleiterscheinung der technischen und industriellen Revolution, die zu jener grundsätzlichen Wandlung der Einstellung geführt hat, welche es uns heute möglich macht, die früheren geistigen Auffassungen nicht nur historisch zu schildern, sondern auch zu verstehen: ich meine die physikalische Revolution von Einstein und Planck, in der die Kausalität ihre beherrschende Rolle im naturwissenschaftlichen Denken verlor.
Was trat nun an die Stelle der Kausalität?
Noch Immanuel Kant hatte geglaubt, dass Kausalität eine Kategorie der Logik sei; dass also der Satz vom zureichenden Grund, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung zur gleichen Gesetzlichkeit gehöre, wie die Kriterien der aristotelischen Logik: der Satz der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Der mathematische Philosoph Gottlob Frege, und in seiner Folge die englische logisch-positivistische Schule wiesen um die Jahrhundertwende nach, dass die Kausalität, wie bereits David Hume vermutet hatte, keinesfalls der gleichen Ordnung zugehört wie die logischen Kriterien; der Beweis liegt darin, dass sich eine Kausalverknüpfung nicht in mathematischer Notation ausdrücken lässt, was bei allen rein logischen Sätzen der Fall sein muss. Ja es lässt sich sogar beweisen, dass der Erweis des Kausalgesetzes unmöglich ist, da es auf der sogenannten aufzählenden Induktion beruht. Alle Kausalsätze fußen auf Beobachtungen, aus denen eine Verallgemeinerung der Art gezogen wird, wie dass Wasser bei 100° kocht: philosophisch bedeutet dies eine Beschreibung eines Zusammenhangs mehrerer Gegebenheiten. Doch aus dieser Beschreibung kann niemals hervorgehen, dass Wasser immer unter diesen Bedingungen kochen muss; es kommt also der kausalen Aussage im Unterschied zur logischen nicht ein absoluter, sondern ein Wahrscheinlichkeitscharakter zu.
Die Kausalität lässt sich nicht mathematifizieren — wohl aber die Wahrscheinlichkeit. Der Satz der Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass ein Vorgang, wenn er eine unendliche Anzahl von Malen wiederholt wird, die Gliederung annimmt, die sich aus seiner mathematischen Struktur ergeben kann. Wenn ich einen Würfel einmal werfe, dann weiß ich nicht, ob eine 6 oder eine 3 erscheinen wird. Wenn ich ihn hundertmal werfe, dann ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass die 6 ungefähr so oft erscheinen wird, wie die anderen Zahlen. Wenn aber der Würfel eine unendliche Anzahl von Malen geworfen wird — dies ist der entscheidende Gedanke — dann muss die Zahl der Würfe mathematisch genau der sechsfältigen Gliederung seiner Möglichkeit, also seiner permutativen Potentialität entsprechen.
Hieraus war es der polnischen logischen Schule möglich, von der zweiwertigen Logik, die gleichsam auf ja und nein beruht, zur dreiwertigen aufzusteigen und die Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Basis der Induktion zu erheben; diese letztere Entwicklung vollendete sich im vorigen Jahrzehnt in Amerika in Nachfolge der Wiener philosophischen Schule, vor allem durch Carnap und Feigel. Damit trat an die Stelle des Kausalgesetzes als letztes Kriterium des wissenschaftlichen Denkens die qualitative Struktur der Zahl, die als Konstante den Vorgang gleichsam magisch lenkt; und die Suche der Naturwissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen richtete sich auf die Entdeckung dieser Zahlenkomplexe oder Konstanten, die als diskontinuierliche letzte unzurückführbare Größen als Bausteine das Weltall bestimmen; ich erwähne nur die Plancksche Konstante, die Ladung des Elektrons, die Lichtgeschwindigkeit und den absoluten Nullpunkt. So sucht die heutige Naturphilosophie nicht mehr nach ehernen Gesetzen im Sinne Newtons oder, wenn wir historisch exakt sein wollen, des Vorsokratikers Xenophanes, sondern nach Konstanten, den sogenannten Parametern. Vor allem durch die Entwicklung der Elektronengehirne sind letztere ausschlaggebend geworden: kennt man die entscheidenden Komponenten eines Vorgangs, den man entschlüsseln will, und setzt man die Zahl der zu beurteilenden Einzelfälle hoch genug an, so dass sich praktisch ihr Verhältnis zur Einzeltatsache wie eins zu unendlich ergibt, dann kann man für Vorgänge und Planungen Voraussagen machen, die den Wunschtraum der kühnsten mechanischen Deterministen bei weitem übertreffen.
Diese Tatsachen sind uns über die Kybernetik und Programmierung allgemein geläufig. Was uns aber nicht geläufig ist, das ist die geistesgeschichtliche Implikation: sie bedeutet nicht weniger als eine Rückgängigmachung der absoluten Scheidung von exoterischem und esoterischem Wissen, die seit dem Ende der pythagoräischen Schule das Abendland zerrissen hat.