Schule des Rades

Arnold Keyserling

Wassermannzeit

II. Methexis

Wissenschaftliche Methode

In den letzten zweitausend Jahren galt die Philosophie im Unterschied zu der Periode zwischen Pythagoras und Sokrates als Hilfswissen: seit den Frühmittelalter als Magd der Theologie, seit dem Siegeszug der Einzelwissenschaften in der Neuzeit als Magd der Wissenschaft. Doch die wissenschaftliche Methode, wie sie seit Telesius üblich ist — wiederholbares Experiment, durch Mathematik und Logik verifiziert, heuristische Theorienbildung — ist nicht imstande die Stufe des Gewahrseins zu erreichen. Daher galten alle solche Bemühungen als esoterisch. Dem Wortsinn nach ist das richtig. Pythagoras, der den Begriff erfand, unterschied zwischen dem exoterischen Schulwissen, das man ohne Verwandlung des Wesens aufnimmt, und dem esoterischen Seinswissen, das einen existentiellen Entschluss zur Wandlung voraussetzt: anstatt erkenne dich selbst, heißt es erlerne dich selbst. In Wirklichkeit ist die philosophische Prämissenkritik, also die esoterische Metaphysik die unabdingbare Voraussetzung der wissenschaftlichen Methoden; denn wenn die Heuristik, also die plausiblen oder konstruktivistischen Methoden, das letzte Wort haben, bleibt die Forschung im prälogischen Vorurteil befangen.
Die wissenschaftliche Methode hütete sich, bis zu den Grundfragen des Seins vorzudringen; denn sie entstand in der Dialektik mit der christlichen Kosmogonie, die mythisch und allegorisch war und der theologischen Interpretation bedurfte. Dieser Gegner ist heute entmachtet. Gerade deswegen haben es die Vertreter des akademischen Wissens besonders schwer, das esoterische Wissen anzuerkennen. Sie wollen die Philosophie als eine Wissenschaft unter anderen oder als interdisziplinäre Forschung betrachten und lehnen jegliche Spekulation ab. Doch das Kriterium des wissenschaftlichen Denkens, die Erkenntnis einer objektiven Wahrheit, ist prinzipiell falsch. Sowohl das bell’sche Theorem als auch der gödel’sche Beweis haben gezeigt, dass alle objektive Vereinzelung falsch ist, da alles in wechselseitiger Abhängigkeit steht. Somit kann das Gewahrsein — Gurdjieff nannte es das objektive Bewusstsein — nicht schulisch und interdisziplinär gelehrt werden. Es verlangt eine Lebensweise, die von seiner spekulativ ergründeten Systemik ausgeht: dem Weltenjahr als weitestem Rahmen der Zeit, der die Geschichte der Gattung in Entsprechung zum persönlichen Lebenskreis setzt.

  • Die linke Großhirnhemisphäre lernt durch Wiederholung; wenn etwas sechzehnmal dem Bewusstsein vorgeführt wird, ist es Teil des neuronischen Gedächtnisses, wie die einfachste musikalische Phrase.
  • Die rechte Hemisphäre der Erinnerung, die über die irdische Lebensspanne hinausreicht, lernt dagegen durch Eingliederung in ein Bild, dessen weitester Rahmen das Körperschema ist.

Die Erinnerung ist nicht an die Hemisphäre gebunden; sie ist Teil jeder Zelle des Körpers und dessen Glieder haben eine ganz bestimmte phänomenologische Bedeutung, die nicht aus Zahl und Maß, sondern aus der inneren Schau stammt, welche aber bei allen Menschen die gleichen Komponenten aufweist.

Arnold Keyserling
Wassermannzeit · 1988
Visionen der Hoffnung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD