Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Wassermannzeit

Einführung

Visionen der Hoffnung

Wir leben seit über zwanzig Jahren in einer neuen Zeit, die sich von der vergangenen Epoche nicht nur graduell, sondern grundsätzlich unterscheidet. Das New Age, das planetarische Bewusstsein, das globale Dorf, das Human Potential Movement, Perestroika, die klassenlose Gesellschaft, das Ende der Geschichte, die Postmoderne, die Rückkehr zum ganzheitlichen Denken: sie alle ergreifen Aspekte des neuen Weltbildes, die aber nicht zur Grundlage des Daseins werden können, weil sie sich alternativ oder im Gegensatz zum Bestehenden begreifen. Hierzu kommt, dass die meisten Weltvorstellungen eine katastrophale Zukunft erwarten: Übervölkerung, Zerstörung der Umwelt, der drohende Atomkrieg, und die berufliche Hoffnungslosigkeit der traditionellen Ausbildung und Lebensformen.
Tatsächlich steht aber die neue Zeit nicht im Gegensatz zur alten, sondern die bisherigen Epochen lassen sich als Stufen auf dem Weg zu einer Existenz verstehen, wo das menschliche Leben seinen Ort im Kosmos wiederfindet, ja die eigentlich menschliche Zeit beginnt. Dieser Gesichtspunkt ist in der astralen Überlieferung als Beginn der Wassermannzeit beschrieben, von welcher Perspektive aus die verschiedenen Umwälzungen einen positiven Sinn finden und viele Probleme lösbar werden.

Der entscheidende Umschwung im Denken war die Entdeckung der natürlichen Evolution durch Charles Darwin. Bis dahin betrachtete man den Menschen als Untertan eines allmächtigen Schöpfers, der einen Plan hat, dessen Sinn der einzelne langsam erfasst. Die Aktivität lag also in Gott, der Mensch musste darauf antworten. War sein Wille im Einklang mit dem göttlichen Plan, dann war er gut. Handelte er gegen diesen Plan war er böse und wurde ein Feind Gottes und der Menschen. Gott war die Aktualität, der Mensch die Potentialität.

Mit der Evolution kehrte sich die Dynamik um. Das Dasein der Welt vom Atom bis zu den Galaxien und zum Universum entfaltet sich auf Grund des Zusammenspiels der Einzelwesen, von denen nur wenige ihre Vollendung erreichen: jene, die entweder bewusst den Zusammenhang mit dem All finden oder die Einpassung wie in Tierwelt und Pflanzenwelt nicht verlieren. Die Welt ist das Ergebnis der Wirkung dieser Einzelwesen, die alle zueinander in Zusammenhang stehen.
Gott ist nicht allmächtig, sondern allvermögend; reine Potentialität, die auf die Aktualität jedes Einzelwesens antwortet und ihm den nächsten Schritt seiner Entwicklung offenbart. Die natürliche Selektion geht von unten nach oben; der Materie als mütterlichem Aspekt der Gottheit wohnt die Entfaltungstendenz, die Fähigkeit der Selbstorganisation oder Autopoiesis inne.
Es gibt keine orthodoxe Wahrheit. Anstelle von Gesetzen, die vom Schöpfer geschaffen der Welt zugrundeliegen, offenbart sich diese als Schichtenbau vom einfachsten Molekül bis zum komplexen menschlichen Organismus, zur Gattung und darüber hinaus bis zum lebendigen Wesen der Erde und des All. Es gibt keinen Plan, keine Prädestination; auch Gott kann nicht wissen, was geschehen wird, sonst gäbe es keine Freiheit. Einerseits ist Gott Subjekt der Schöpfung und in ihrer Forderung nach Harmonie, nach Zusammenklang erkennbar: indianisch Skwan. Andrerseits hat sich der göttliche Urgrund Wakhan, das Nichts, das dauernd das Etwas gebiert, in Myriaden von Wesen gespalten, die zurück zur großen Einheit streben. Und drittens hat jedes Wesen die Tendenz, sobald es seine Bedürfnisse befriedigt hat, auch dem Mitwesen zur Vollendung zu helfen; es hat also Teil an der Liebe des Einenden Einen. Und viertens zeigt Gott als Urbild des Menschen im All die Vollendung und verlangt Teilnahme am großen Werk der Erde. Die Entfaltung des einzelnen ist auch die Entfaltung Gottes, der nicht in ewiger Ruhe verharrt, sondern in unserer Entwicklung sich selbst erkennt und verwirklicht.
Die irdische Existenz zwischen Geburt und Tod ist nicht Sinn und Ziel des Daseins, sondern der Weg zu einer anderen Existenz, die nach dem Tode zur Teilhabe am Göttlichen auf einer neuen Erde führt, welche der Sprache und der Vision schon in diesem Leben zugänglich ist. Die Gottheit ist also nicht personal im Sinne des christlichen Vaters, sondern überpersönlich wie das germanische Got, das indische Brahman jenseits von Name und Form, oder die buddhistische Urmacht, die man nicht beschreiben kann, die aber jeder sofort erreicht, der sich zu ihr entscheidet.
Während der Herrschaft der prophetischen Religionen blieb diese Auffassung, die man als Religion des Menschen bezeichnet, esoterisch und im Untergrund. Jede der Bewegungen der neuen Zeit hat Teile dieses Weltbildes anerkannt, andere vernachlässigt. Da nun aber die geschilderte Struktur der Transzendenz älter ist als alle jene Religionen und Weltanschauungen, die heute zu ihr kirchlich oder akademisch-wissenschaftlich im Gegensatz stehen, kann sie als Teil der Evolution uns einen Schlüssel geben, wie alle bestehenden Richtungen in das Große Ganze der Wassermannzeit integriert werden können, ohne ihre Eigenheit zu verlieren. Wir verwenden zu ihrer Erläuterung die Sprache der Wissenschaft, die seit der Neuzeit anstelle der Bekenntnisse zum Kriterium der Wahrheitsfindung wurde.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Wassermannzeit · 1988
Visionen der Hoffnung
© 1998- Schule des Rades
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