Schule des Rades
Arnold Keyserling
Wassermannzeit
III. Weltenjahr
Aion
Den Griechen und den Persern war das Weltenjahr noch ein Begriff, obwohl seine Bedeutung und Struktur nicht mehr bekannt war; sowohl das platonische Jahr als auch die schiitische Heilserwartung der Wiederkehr des zwölften Imam am Ende der Geschichte ist mythisch und nicht astronomisch. Doch das Wort Aion behielt seine eigentliche Bedeutung. C. G. Jung schreibt, dass die Christen, als sie keine Anerkennung seitens der Juden fanden, sich als Vertreter des neuen Aions der Fische gegenüber dem Widder erklärten, also als neue Weltzeit. Da aber sowohl die Griechen als auch die Römer, Juden und Mohammedaner die weibliche Religion der Erde ablehnten, konnten sie den Sinn des Weltenjahres nicht in ihr Bekenntnis einbeziehen. Erst die naturwissenschaftlichen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte haben ein logisches Verständnis dieses Zusammenhangs möglich gemacht.
Der menschliche genetische Code hat in sich die Potentialität zu einer begrenzten Entfaltung. Nach 54 Teilungen der Urzelle ist der Organismus ausgewachsen und funktionsfähig. Der genetische Code ist hierbei als Sprache, als Information zu begreifen; er besteht aus ja und nein Entscheidungen, aus Bits. Gibt es nun für die Entwicklung der Gattung Mensch einen gleichen oder ähnlichen Schlüssel, mittels welchem wir die menschheitliche Entwicklung aus dem Arterhaltungsinstinkt begreifen können?
Cesare Marchetti hat die Hypothese aufgestellt, dass alle menschlichen Kreationen, die gesellschaftlich bedeutsam wurden — von einer Form oder der Entdeckung einer neuen Technik bis zur künstlerischen Kreativität — einem Zyklus folgen, der von Kondratieff entdeckt wurde und durch mathematische Gleichungen zu bestimmen ist. Der Zyklus zeigt 55 Jahre.
Die Sonnenflecken haben einen elfjährigen Zyklus: fünf ihrer Perioden entsprächen also diesem Zyklus menschheitlicher Kreativität. Meistens stirbt eine Institution oder eine Firma, kurz bevor sie den ganzen Zyklus ausgeschöpft hat. Das gleiche gilt für Musiker, Maler und Schriftsteller; sie sterben, wenn sie etwa fünfundneunzig Prozent ihres Potentials verwirklicht haben.
Kreativität ist also nicht frei, sondern steht in Entsprechung zur natürlichen Evolution und ist durch den Zeitgeist bestimmt. Das bedeutet keineswegs astrologischen Fatalismus; es gibt kein vorbestimmtes Schicksal; aber aus einer Wirklichkeit ergibt sich nur eine bestimmte höchste Möglichkeit als sprachliche Antwort auf die Lage. Natürliche und geistige Kreativität folgen also gleichen Gesetzen. Der Mensch, der imstande ist, diese Potentialität zu erkennen und zu ergreifen — das Genie lebt im Einklang mit der Gattung. Genialität wäre demnach keine Begnadung, sondern absichtliches Erfüllen der jeweils besten Möglichkeiten; der gleiche Gedanke, demgemäß Leibniz unsere Gesellschaft als die bestmögliche aller Welten bestimmt hat — weil sie eben dem Verwirklichungspegel entspricht, der durch die mitmöglichen Handlungen (compossibilitas) zur prästabilierten Harmonie beiträgt.