Schule des Rades
Arnold Keyserling
Wassermannzeit
III. Weltenjahr
Wendezeit
Wir leben im Übergang von der Fischezeit in die Wassermannzeit. Der entscheidende Umschwung war die Anerkennung der Evolution, dass also die Welt nicht aus dem Plan eines allmächtigen Gottes gelenkt wird, der im Gegensatz zu Satan steht, und sich der Mensch im Kampf für Gott gegen den Teufel engagieren muss, sondern dass die Entfaltung von unten nach oben geht und der Zustand der Welt von der Reife der Individuen bestimmt wird. Am klarsten kommt dies im Schema von Norbert Elias zum Ausdruck. Bei den Tieren entfaltet sich ihre Lebensweise im arteigenen Ritual zwischen Arterhaltung und Selbsterhaltung, männlichen und weiblichen Rollen. Das Ritual bleibt so lange fixiert, wie die Gattung existiert, es sei denn eine Mutation schaffe ein neues Ritual.
Beim Menschen ist das Ritual durch die Fähigkeit der Sprache in ein freies Spiel verwandelt. Zwar übernahm er in der Altsteinzeit die Festgelegtheit durch totemhafte Identifikation mit einer Tierart, und die periodische künstlerische Darstellung ihres Rituals bildete seine Verwurzelung. Der Mensch des Weltenjahres dagegen hat als Mitte die frei geschaffene Zivilisation. Ihre Schamgrenze weicht immer weiter zurück; Torturen, die dem Mittelalter selbstverständlich waren, stören heute unsere Vorstellungen der bienséance
: dessen was in der Zivilisation sittlich gerechtfertigt ist.
Doch das Bekenntnis zu einer Kultur fällt wieder ins Ritual zurück, wenn an die Stelle des Totems eine verpflichtende Ideologie tritt, die zwischen orthodox und unorthodox unterscheidet. So ist ein weiterer Schritt über Elias hinaus notwendig; er verlangt die Anerkennung der göttlichen Mächte hinter Instinkten und Rollen.
Das Totem des homo faber hatte willentlich die Einheit mit einer Tiergattung durch Jahrmillionen aufrechterhalten. Der homo sapiens sapiens hat nach der neolithischen Revolution die instinktive Einordnung der Sprache in die Harmonie der Natur verloren — Sündenfall bei den Juden — und muss sie wiederfinden, indem er sich für Gott und gegen den Teufel entscheidet. An die Stelle des Jägers und Sammlers treten Viehzucht und Ackerbau, Besitz und Stand, oder Geld und Macht, deren Rolle bis vor kurzem festgelegt wurde. In der Wassermannzeit ist die Geschichte von Geld und Macht zuende, das ganze Rad ist bewusst geworden. Daher ist der neue Mensch nicht mehr homo sapiens sapiens, sondern homo divinans; er erreicht über das Wachen hinaus die Stufe des Gewahrseins. Das bedeutet einerseits Vergöttlichung — es gibt keinen falschen Weg mehr, divinus — andererseits die Fähigkeit, die Zukunft zu erkennen und auf sie hin zu leben, divinare. Der Mensch entwirft sich selbst und erkennt, dass sein Dasein nicht an das Leben auf der Erde gebunden ist, sondern in eine kosmische Existenz mündet, wo er Teil des Menschen im All wird.
Im Weltenjahr hat jede soziale Stufe die vorhergehende akzeptiert: Klans wurden zu Stämmen, Stämme vereinigten sich zu Städten, Städte zu Völkern und Völker zu Reichen; doch die vergangene religiöse Form des Weltbildes wurde entwertet und bekämpft. Im Weltenjahr wird die Religion eines Zeitalters immer durch das Gegenzeichen charakterisiert. Mit der Wassermannzeit ist aber das ganze Rad offenbar geworden; der Übergang bringt eine Mutation, die an Bedeutung der neolithischen Revolution nicht nachsieht. Daher gilt es das verdrängte Wissen der vergangenen Religionen zu integrieren und die echte Ökumene zu schaffen. Das ist möglich, weil bis vor kurzem Menschengruppen existierten, die die vergangenen Religionen, wenn auch oft in karikierender Form aufrechterhalten haben, sodass es leicht gelingen kann, deren Wahrheit zu entschlüsseln.
Bis zur Wassermannzeit entwickelten sich die menschlichen Gruppen entweder solar als wandernde Gemeinschaften oder lunar um ein geographisches Zentrum, als letztes die Reichshauptstädte wie Wien und Peking oder Moskau. In der Wassermannzeit sind dagegen die früheren Strukturen zu Bestimmungen der Menschlichkeit geworden und entsprechen den Altersstufen. Wir leben den Klan als Familie, den Stamm als Forschungsgruppe, die Stadt als öffentliche Funktion, das Volk als Sprachgemeinschaft, und das Reich als Teilnahme an der Kultur.
Während der Aufklärung des Rationalismus sind alle religiösen Formen sinnentleert worden; das bürgerliche Bewusstsein beschränkte den Menschen auf die Existenz zwischen Geburt und Tod und leugnete die Erfahrung der Transzendenz und der Religion. In der Wassermannzeit wird der esoterische Weg des Wissens tragfähig. Er tritt aus der Intimität und Abgeschlossenheit kleiner Gruppen in die Öffentlichkeit und ergänzt die strategischen bürgerlichen Wissenschaften: während letztere das kollektive Gedächtnis bilden, das man schulisch erlernen kann, sind erstere die lebendige Erinnerung, die den Sinn einer Existenz erfassen und schaffen lässt. So will ich nun versuchen, kritisch den Sinn von Magie, Mythos, Mystik, Ethik und Glaube als Komponenten des Gewahrseins der Wassermannzeit zu bestimmen.