Schule des Rades

Arnold Keyserling

Wassermannzeit

IV. Magie

Magische Religion

Magie bedeutet über Sprache, Gebärde und Handlung mit Wesenheiten hinter der Erscheinungswelt in Beziehung zu treten. Das göttliche Licht und die göttliche Kraft haben als Ursprung das Einende Eine, dessen Vollendungsbild der Mensch im All ist.
In Beziehung zu diesen Urmächten kann man nur aus der Mitte treten. Doch gibt es drei Mitten: der Schwerpunkt des Geistes ist im Kopf, der Seele im Herzen und des Körpers im Unterbauch.
Magische Religion ist auf drei Weisen zu vollziehen: geistig durch Anrufung, seelisch durch Ritus und körperlich durch Tanz und Trance. Die Voraussetzung des magischen Glaubens ist, dass die Wesen mir antworten, wenn ich sie dazu auffordere oder sie darum bitte. Magischer Aberglaube wäre die Vorstellung, dass ich die acht Mächte durch bestimmte Techniken zwingen könnte, mir willens zu sein.
Das magische Weltbild ist voll von Gegensätzen, die sich dauernd ineinander umkehren. So ist der Bauch als Schwerpunkt des Körpers auf die Selbsterhaltung bezogen, doch dort befindet sich die Sexualität, die zur Arterhaltung gehört. Der Kopf ist auf die Arterhaltung bezogen, doch die Nahrung als Grundlage der Selbsterhaltung wird durch den Kopf aufgenommen. Die männliche seelische Rolle ist artbezogen, doch kümmert sich der Mann um die Ernährung der Familie. Die weibliche Rolle ist selbstbezogen, doch sehnt sich die Frau danach, dass ihre Kinder den Weg in die Gesellschaft finden. Arterhaltung und Selbsterhaltung finden ihre Vereinigung nur in der Mitmenschlichkeit im Bilde des Tierkreises, der alle Themen des Lebens einschließt.
Wie kann ich nun zum Mitmenschen werden? In der Anrufung verwende ich drei Gegebenheiten: die Richtung erspüre ich über den Tastsinn; die Vision oder die Bedeutung eines Geschehnisses erfahre ich über das innere Auge. Die unterscheidende Anrufung vollziehe ich durch die Zahl, wie sie in der früheren Darstellung geschildert ist, durch den Rhythmus der Trommel, welcher gleichzeitig die entsprechende Körperzone aktiviert. Nach der Beendigung kann ich mir die Frage stellen, ob die Wesen mit mir sprechen. Sobald ich nun ein Ereignis, eine Vision oder eine Stimmung als Antwort einer der Wesenheiten anerkenne, beginnt der Weg, durch den ich in die raumzeitliche Dauer der Wirklichkeit gelange und das Gefängnis der Ichassoziationen sprenge. Die acht Urwesenheiten, die Eingebundenheit des Menschen im All, wird ihm nur durch die Anrufung zugänglich; sie schalten sich nicht, wie niedere Wesenheiten der Grauzone, ungefragt im Leben ein. Negativen magischen Begebnissen liegen meistens Sonderabsichten zugrunde.
Am Anfang des Lebens und ebenso am Anfang der Geschichte einer Weltepoche sind deren Möglichkeiten nur in Umrissen spürbar; erst später entfalten sie sich zu erkennbaren gesellschaftlichen Gestaltungen. Heute ist die magische Religion im Voodookult meistens auf die Ärmsten der Armen beschränkt, ebenso im Candomblé, Umbanda und Quimbanda in Brasilien, weshalb manche Forscher die auftretenden Geister als freud’sche Überich­konstruktionen zu entlarven glauben; so wäre die wahre Bedeutung eines Kriegsgottes für den gesellschaftlich Entwickelten etwa der Träger der Amtsmacht.
Aber die magische Ichwerdung findet nicht im bürgerlichen Bewusstsein statt, sondern während der ersten sieben Lebensjahre. Wenn ich nicht die Mächte der Pflanzen, Tiere, Steine, des Feuers, ferner die Ahnen, Geister, Engel und Musen als Wesenheiten außer meiner betrachte, sie psychologisierend als Kräfte meines Unbewussten bestimme, dann kann ich mit ihnen nicht in Dialog treten. Da sich nun alle späteren Religionen gegen die Magie aufgrund des schwarzmagischen Missbrauchs gestellt haben, muss der Weg zum Ursprung bewusst zurück gegangen werden, weil nur so die psychische Integration organisch erfolgt.
Die Anrufung ist der geistige Aspekt der Magie. Man nennt sie auch Beschwörung. Ich fordere von den Wesenheiten, dass sie mir helfen mich zu orientieren. Das ist der magische Sinn ihres Daseins. Er steht im Gegensatz zur bürgerlichen Vorstellung, dass der Mensch alles allein könne im Verein mit dem Bild eines allmächtigen Vatergottes, der gleich dem Menschen transzendent zur Wirklichkeit stünde. Diese Vorstellung ist nicht wahr: alle Emotionen, Triebe, Vorgänge und Stimmungen des körperlichen, seelischen und geistigen Organismus sind Ergebnisse und keine Ursachen. Das wahre Selbst ist mit dem All-Ich, mit Gott identisch, muss aber den Weg der Vereinzelung gehen, da nur dann der kosmische Dialog entsteht.

Als Vorbereitung, um mit den Wesenheiten in Beziehung zu treten, muss die falsche geistige Vorstellung als Gehäuse der Kultur zuerst einmal ausgeschaltet werden. In Brasilien und im Voodoo wird für die Trance der Kopf des künftigen Adepten so lange gedreht, bis der Körper seine Schwerkraftachse ohne das Gleichgewichtszentrum der Ohren findet. Der Gleichgewichtssinn wird durch Steinchen im Innenohr aufrecht erhalten. Beim Wirbeln des Kopfes gehen diese in die Peripherie und die Bewegungsmitte muss übernehmen.
Wird diese Technik psychologisch dazu verwendet, Uremotionen auftreten zu lassen, so vollzieht sich die Trance averbal: es ist eine wilde Trance. Bei der magischen Religion versucht der Priester diese zu vermeiden; er erkennt, ob ein Geist und welcher Geist sich jetzt des Menschen bemächtigen will. Anstelle einer inkarnierten Kulturgestalt haben wir also einen nichtinkarnierten Kulturgrund, der dramatisch auftaucht und den Betreffenden eine große Freude und Befreiung bringt. Wird der Tänzer von einer der Gottheiten ergriffen, so kann er heilen oder wahrsagen, weil seine Stimme aus dem Gewahrsein spricht und nicht aus dem Ich.

Arterhaltung und Selbsterhaltung beziehen sich auf den mittleren Bereich des Rades von denken und Seele, also die Ichformation, die ans Leben auf der Erde gebunden ist. Das Leben schwingt dauernd zwischen Aufbau und Zerstörung, einatmen und ausatmen, Systole und Diastole des Herzens, weißer und schwarzer Magie. Die Unterscheidung dieser beiden Richtungen wird erst für den zum Gewahrsein Erwachten wesentlich. Wer im Ichbild gefangen ist, den hält das soziale Gehäuse. Ihm ist die rechte Hemisphäre des Traumes und die Vorderzone des Schlafes und die Fähigkeit nachtodlicher Erfahrung im Großhirn noch verschlossen. Daher bedarf der Mensch, der sich in Trance begibt, eines Führers, der unterscheidet, welche Kräfte aufbauen und welche zerstören.

Damit jenseitige Wesenheiten sich manifestieren können, muss man ihnen einen Kraftleib zur Verfügung stellen. Das schafft im seelischen Bereich ein gemeinsamer Ritus mit der Wahl eines geometrischen und musikalischen Symbols, durch welches der entsprechende Geist angesprochen werden kann. Die Trance wird sinnvoll, wenn das Ichbewusstsein seine Letztgültigkeit verloren hat. Bei einem Psychotherapeuten, für den das Unbewusste die letzte Instanz ist, bleibt alles auf der Ebene der Hygiene, denn die Gesellschaft als solche wird nicht in Frage gestellt. Hier ist die afrikanische und australische Religion tiefer. Wenn sie auch kulturell an das bürgerliche Bewusstsein nicht heranreicht, ist sie doch existentiell mit der Transzendenz in Beziehung. Das ist in späteren Altersstufen und kulturellen Gehäusen auch nicht schwerer zu bewerkstelligen, weil das magische Bewusstsein nur die Rückkehr in unser erstes Jahrsiebt erlaubt, welches auch für die Tiefenpsychologen für alle spätere Sinnfindung entscheidend bleibt.

Viele der Geister können außer dem Wort durch einen materiellen Gegenstand herangerufen werden: so Pflanzen, Tiere, Minerale oder das Feuer. Daher kann auch der entsprechende Stoff — das Amulett des Steines, des Kristalls oder Metalls, der Heilpflanze, der Tiergeist oder auch der Weihrauch und Trank zur Kommunion dienen. Die sinnvolle Verwendung all dieser Mittel und Anrufungen werden wir erst im Zusammenhang mit dem Pleroma der Wassermannzeit verstehen.

Ohne Kenntnis der magischen Religion kann der Schritt vom Tiermenschen zum Sprachmenschen nicht organisch vollzogen werden. Ist er einmal durchgeführt, dann wird die Eigenmächtigkeit dieser Altersstufe überwunden und führt in die mythische Religion des Stammes, die in der Zwillingszeit zum Weltgewahrsein wurde.

Arnold Keyserling
Wassermannzeit · 1988
Visionen der Hoffnung
© 1998- Schule des Rades
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