Schule des Rades
Arnold Keyserling
Wassermannzeit
V. Mythos
Die Ordnung des Klans
Alle Mythen haben ihr Urbild im Großen Menschen, der sich am Anfang der Zeit zerstückelte, auf dass der Mensch die Teile zu seinem Wesen zusammenfügen könne. Die Mythologie ist ein Niederschlag dieses Dramas, das im Sinne des Schützen — des Zentauren, dessen pferdhafte Triebhaftigkeit dem Geist folgt — immer neue Abenteuer, neue Reisen, neue Ziele vorstellbar macht. Das Urbild des uranischen Großen Menschen im Tierkreis wurde mit den ersten Mythen durch die Altersstufen zugänglich gemacht, die zu Geheimgesellschaften wurden: geheim war für den Jüngeren, was der Ältere nach einer Initiation wusste. Man konnte nur in eine höhere Stammesgruppe aufsteigen, wenn man die Aufgaben der niederen integriert hatte. Bis vor kurzem prägten diese Altersgruppen das Stammesleben in Afrika. Daher gibt es genaue Berichte über manche dieser rites de passage, die Mutproben, die den Überstieg ermöglichten.
In der entsprechenden Altersgruppe zwischen sieben und vierzehn Jahren ist der Stärkste und Schönste der Held, der frei einer Eingebung folgt, die ihn aus den Familienbanden und den Überlebensproblemen heraushebt. Nietzsche hat diesen Einstieg als Öffnung gegenüber Dionysos und Apollo beschrieben: Wer von einem Wahn ergriffen wird, für den haben die Gebote der üblichen Moral keine Bedeutung mehr. Er muss die Ordnung durch Anjochung der dionysischen orgiastischen Naturkräfte zerbrechen also gerade das, was sich in der Besessenheit negativ äußert um seine überpersönliche Rolle zu empfangen und durchzuführen. Manchmal steht am Anfang eine Urschuld wie die Tötung des Königs Pyraichmos durch Herakles, weil dieser im Wettlauf schneller gelaufen war; der Muttermord des Orestes, oder die Tötung des ägyptischen Sklavenaufsehers durch Moses.
Wer sich gegen die Ordnung des Klans auflehnt, der kann nicht mehr zurück. Er muss sein Verbrechen, das Brechen der vergangenen Sittlichkeit, in eine höhere verwandeln, indem er sich auf die endlose Reise begibt, deren Ziel, wie das Ende der Odyssee zeigt, letztlich unbekannt ist.
Die Ordnung des Klans ist rational einsichtig. Am Ende der Krebszeit war die magische Mutterreligion des Mondes und des Steinbocks verhärtet, drohte sogar in die tierische Existenz zurückzusinken, wie der Mythos der Sintflut zeigt, wo nur der Erbauer einer Arche dem Unglück entrinnt. Im Mythos erkennt sich der einzelne seine Vision zu, ja er sucht diese. Und gelingt ihm die Verkörperung eines Archetypus wie des Helden, des Heiligen Weisen, des Richters, des Propheten oder des treuen Paladins, dann findet er Gefolgschaft. An die Stelle der Geborgenheit im Klan tritt die Suche nach Gefährten, nach Anerkennung durch Gleichgesinnte, oder nach Erlösung des Tiermenschen zum Geistmenschen wie im Gilgamesch Epos.
Heute ist das Problem der mythischen Vision in der technologischen Zivilisation besonders akut geworden, da der Staat und die Öffentlichkeit keinen Mut fordern, sondern als Versorgungsanstalt betrachtet werden, als ein Wesen mit zahllosen Brüsten wie die Muttergottheit von Ephesos. Da nun alles, was wiederholbar ist, computerisiert werden kann und möglicherweise bald in den Industriestaaten ein Grundgehalt jeden Menschen der Überlebenssorge enthebt, ist die Frage der Wiedererinnerung des Mythos und Neuentdeckung des Mutes von existentieller Bedeutung. Wir können ihn in die Sprache der Wassermannzeit übersetzen, wenn wir an die Stelle der zwölf olympischen Götter für die Altersstufen die Ideale setzen, wie es Platon in der Nachfolge von Sokrates getan hat.
Eine Vision ist eine Idee, ein inneres Bild, das aus dem Nichts auftaucht; es hat nicht in psychischen Problemen seinen Ursprung, sondern wird als Aufgabe und Berufung erlebt. Diese Vision verlangt die Interpretation durch jenen, der von ihr befallen wird. Wir kennen die Visionssuche der Indianer: ein Traumbild oder ein äußeres Ereignis werden zum Omen, wonach der einzelne fortan handelt. Vorher hatte er keinen Weg; nachher ist er dieser Weg und kennt nur noch Gefährten, die mit ihm zusammen das Große Wagnis beginnen.
Solange der Mythos personifiziert wurde, fiel er in die Nachfolge und damit in den Versuch der Bestechung transzendenter Mächte zurück. Doch sobald es gelingt, die Ideen in Ideale zu verwandeln — die nie erreicht werden können, weil sie komparative Begriffe sind — dann kann Einmütigkeit darüber entstehen und errungen werden, dass ein Ideal für jeden erstrebenswert ist.
Platon veranschaulichte diesen Zusammenhang an den Idealen Wahrheit, Schönheit, Güte und Gerechtigkeit. Jeder als wahr befundene Satz wird Ansatz einer neuen Problematik; jede gütige Handlung bringt eine größere Zuwendung zum Mitmenschen; jeder schöne Körper lässt einen noch schöneren erahnen, und jede zu Recht gewordene gerechte Handlung weist auf eine höhere Sittlichkeit.