Schule des Rades
Arnold Keyserling
Wassermannzeit
VI. Mystik
Ägyptische Religion
Der ursprüngliche Große Mensch wurde in der ägyptischen Religion von Seth, dem Wüstengott zerstückelt und beherrscht seither als Osiris die Unterwelt. Die aufgehende Sonne, die Sonne im Zenit und die untergehende im Westen sind die drei dem Bewusstsein zugänglichen Aspekte der Gottheit. Die Aufgabe des Menschen ist, im Tageslauf die Nacht anzujochen und den Osiris zusammen mit Horus, der im Pharao inkarniert ist, zur vollen Gestalt mit Hilfe der Isis zu ergänzen.
Tags geht die Sonne von Osten nach Westen, vom Land des Lebens zum Land der Toten; nachts kehrt sie unter der Erde von Westen nach Osten zurück. Das rechte Auge ist das Sonnenauge des Tages; das linke das Mondauge der Nacht, der Vorstellung. In Ägypten sieht der zunehmende Mond wie eine Barke aus. Wecken des Mondauges bedeutet, die Nachtfahrt zurück bewusst zu machen. Mystik bedeutet griechisch das, was man mit geschlossenen Augen sieht, also die Erfahrung der nachtodlichen Welt.
Jeder gestorbene Pharao hat an der Ewigkeit teil, denn er ist mit Osiris eins geworden; sein Sohn setzt die Inkarnation fort. Die Totenbücher zeigen den Weg des Wissens, um das Heil zu erreichen. Hierzu wurde in Ägypten der Tag in 24 Stunden unterteilt, 12 Tagesstunden und 12 Nachtstunden, wie wir es heute noch befolgen. Mystiker ist jener, der das Mondauge erweckt und die sechs Doppelstunden des Tages dazu verwendet, das Erleben der Nacht zu integrieren. So wird der Tageslauf dem Lebenslauf gleichgesetzt.
Nach dem Tod tritt der Mensch vor den Totenrichter Anubis, ein Wesen mit Schakalkopf. Dieser wiegt sein Herz und seine Feder, Symbole der Selbsterhaltung und Arterhaltung, des Kraftleibs Ka und des Lichtleibs Ba. Nur der Kraftleib kann den Wortleib Ach unsterblich werden lassen, wenn in der Waage vor den Tierwesen — die Tiere verlieren nie das Gleichgewicht der Arterhaltung — die Art stärker wiegt, die Mitarbeit an der gemeinsamen Geschichte und der Verkörperung im Werk, als die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse. Hinter Anubis steht der Schreiber Ptah, der die unerbittliche Erinnerung symbolisiert, und dahinter die Nachtschlange.
Vor Anubis und Ptah muss der Verstorbene ein negatives Sündenbekenntnis ablegen: ich habe diese und diese Sünde nicht begangen. Es sind zweiundvierzig Bekenntnisse im Einklang mit der Hälfte des Lebenskreises von zweiundvierzig Jahren. Wiegt das Herz schwerer als die Feder, hat sich der Mensch als Individuum in seinen Ka mit einer Tierart, einer Pflanze oder einem Stein identifiziert, dann geht er nach dem Tod in diese ein, was für das Bewusstsein Hölle bedeutet. Er bleibt dort so lange, bis die Motivation erschöpft ist. Hat er aber seinen Lichtleib schwer gemacht, dann kann er mittels des Mondauges die Barke zurück zur Wiedergeburt auf der Erde besteigen und gleich Horus der Unsterblichkeit näher kommen. Im ersten Fall verschlingt die Nachtschlange den Menschen, im zweiten wird sie zum Weg. Doch die persönliche Unsterblichkeit blieb der mystischen Religion verschlossen.
Der Totenrichter ist das Sinnbild des inneren Gewissens, eine höhere Instanz als magische Heilung und mythische Vision. Niemand kann diese erreichen, der es nicht glaubt und sich jeden Tag bemüht hat, die entsprechende Station der Nachtfahrt mit ihrer Schwelle und ihren Gefahren zu integrieren. Nehmen wir als Raster der Stundeneinteilung den Tag des Frühlingsbeginns, so gliedern sich die Bemühungen wie folgt:
Uhrzeit | Entsprechung | ||
6 8 10 12 14 16 - - - - - - 8 10 12 14 16 18 |
XII. XI. X. IX. VIII. VII. |
Fische Wassermann Steinbock Schütze Skorpion Waage |
Regeneration Bildung Verantwortung Aufgabe Einsatz, Kraft Gemeinschaft |
Wirkung auf das Nachtbewusstsein | |||
18 20 22 24 2 4 - - - - - - 20 22 24 2 4 6 |
VI. V. IV. III. II. I. |
Jungfrau Löwe Krebs Zwillinge Stier Widder |
Arbeit Können Bedürfnisse Forschungsweg Gestaltung Person |
Die Stundenordnung hat sich bis heute im Bewusstsein aller jener erhalten, die am ägyptischen Erbe teilhaben: Griechen, Juden, Römer, Christen, Moslems, und die Vertreter aller esoterischen und alchemistischen Traditionen. Wir wollen sie nun im einzelnen schildern. Die Nachtfahrt ist in den Wegen zu den Königsgräbern in Westtheben in mannigfacher Weise abgebildet worden. Hierbei sind die astronomischen Stunden nur ungefähre Zeiträume. Die einzig feststehenden Zeiten sind Mittag, Mitternacht, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. So haben die Tagesstunden je nach Jahreszeit eine andere Länge, wie sich das auch heute noch im Horoskop spiegelt.
Tags herrscht der Arterhaltungstrieb im rechtsläufigen Sonnenweg, nachts der linksläufige Selbsterhaltungstrieb: die heilige Erde sorgt dafür, dass der Lebende in Traum und Vorstellung, aber auch im Verkehr mit Freunden seine Integration wiederfinden. Praktische Arbeit über den Tag hinaus kann die Kraft der Regeneration beeinträchtigen. Es heißt, dass der REM-Traum bei triebhaften und jungen Menschen seine Rolle immer erfüllt. Doch je mehr das Tagbewusstsein sich in einer Routine verhärtet, desto weniger kann der Mensch in seine Spontaneität zurück; es sei denn, er erkennt seinen Mangel und kümmert sich um Wiederherstellung des Tagesrhythmus.
Das Sündenbekenntnis, die Tageseinteilung, die Kultur und die Zeremonien waren nicht auf die objektive Zeit des Tierkreises eingestimmt, sondern auf die Persönlichkeit eines Herrschers, eines Pharaonen als Verkörperer des Horus. Im alten Reich hatte er allein die Berechtigung, sich Horus und später Osiris zu nennen, also die Unsterblichkeit auf Erden weiterzutragen. Mit Beginn der Widderzeit wurde in einer Revolution das Totenbuch allgemein zugänglich gemacht. Doch der Versuch Echnatons im 14. vorchristlichen Jahrhundert, Mystik und Mythos durch einen einzigen Sonnengott zu überwinden, scheiterte und der nächste Schritt wurde durch eine kleine Gruppe von Menschen in der Symbolik des Widders mit Moses eine Generation nach Echnaton vollzogen. Das bringt uns zur vierten Religion, der Ethik der Widderzeit, deren Gottesbegriff das Gesetz ist, das Ritual, Verhalten und Gnosis umfasst.