Schule des Rades
Arnold Keyserling
Wassermannzeit
VII. Ethik
Indien
China geht in seiner Religion von der Gemeinschaft aus, sieht eine Erlösung außerhalb der Arterhaltung als unmöglich. Seinen Gegensatz bildet die indische Religion, die die Überzeugung vertritt, dass nur der Einzelne imstande sei die Befreiung zu erreichen, doch dass dieses Heil für jeden das Ziel darstellt. Alle Religionen sind gleich berechtigt, weil für jeden Menschen sein eigener Weg gefunden werden muss. Einen Weg finden kann nur der, welcher auf Grund seiner Inkarnationen dazu reif geworden ist.
Der einzelne lebt zwischen Karma und Dharma. Karma bedeutet die Wesensstruktur, wie sie sich durch Erfahrungen und Handlungen gebildet hat. Dharma dagegen ist das Weltgesetz und Religion wird als Sanatana Dharma, als ewiges Gesetz im Sinne der Philosophia Perennis betrachtet.
Die Gesellschaft verharrt im Reich der Fische, wo der Stärkere den Schwächeren frisst. Solange einer sich nicht zum Geist berufen fühlt, hat es auch keinen Sinn, dass er mehr als seine Seinspflichten der Kaste erfüllt. Doch wer einen geistigen Weg gehen will, für den sind die Kasten mit ihren genauen Essens- und Geschlechtsvorschriften nicht mehr bindend. Er wählt einen von drei Wegen: Bhakti, die liebende Nachfolge; Jnana, das ungezweite Denken, oder Tantra die Anjochung des Körpers. Drei Göttergestalten präsidieren dieser Wahl: Vishnu, Shiva und Brahma.
Der Vishnuweg ist jener der liebenden Devotion, am nächsten dem Christentum vergleichbar. Jnana ist der Weg der Erkenntnis und der Nachfolge Shivas, und Tantra geht vom Körper selbst aus, erlebt alle Götter als Gestaltungen Brahmas in seinem Leib. In ihrer Befreiung erreicht der Mensch auch die eigene: er wird zum Jivanmukti, zum einen im Leben befreiten Heiligen.
Aus dem Tantraweg ist der Yoga entstanden, der seine philosophische Fassung im Yogasutra des Patanjali im 3. vorchristlichen Jahrhundert gefunden hat.
Ein indischer Lehrer legt wenig Wert auf exakte Formulierung, weil formal-schulische Wahrheitserkenntnis den Menschen in die Vorstellung einlullt, er wisse jetzt die Wahrheit. Indische Begriffe sind Wegweiser zur Selbstrealisierung, das Heil kann jeder nur persönlich gewinnen. Der Yoga überwindet das begriffliche Denken durch Anpeilung der höchsten Bewusstseinsstufe des Gewahrseins im Samadhi, welcher sowohl Gottesbewusstsein als auch geistige und körperliche Seligkeit bedeutet.
Es handelt sich für uns in der Wassermannzeit nicht darum, den Yoga als Gestaltung des indischen Geistes zu verstehen, sondern sich aus seinen Erkenntnissen das herauszusuchen, was keine andere Überlieferung formuliert hat: Viveka, die religiöse Unterscheidung. Daher fühle ich mich auch berechtigt, die Reifestufen des Yoga im Einklang mit den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaft darzustellen. Ich lebe im Yoga seit über zwanzig Jahren und langsam stellt sich seine Wahrheit als seinsnotwendig heraus im gleichen Sinne wie bei Magie, Mythos und Mystik. Wie ein Chinese und Inder selbstverständlich die europäische Mathematik und Naturwissenschaft akzeptiert, so müssen wir das Erbe Indiens für unser Leben einsetzen, weil wir sonst nicht organisch das globale Bewusstsein erringen können.
Die Juden ritualisierten den Alltag; die Chinesen erkannten den Zugang zum germinalen und universistischen Bewusstsein. Die Inder zeigten den Weg, wie im Yoga der körperliche Organismus zur Brücke zum Geist werden kann; wie also der einzelne die zweite Geburt nicht allegorisch, sondern existentiell durch physio-psychisch-pneumatische Wandlung erlebt. Der Kernpunkt ist die Lehre der Chakras als zu erweckende Verbindungsstellen zwischen Körper und Geist.
Die Mystik zeigt den Weg zur Reinkarnation nach dem Tode; der Yoga geht zurück in die embryonale Entwicklung bis vor die Empfängnis, wie das Gebet des Buddha lautet: Lass mich mein Antlitz schauen, bevor ich empfangen wurde.