Schule des Rades
Arnold Keyserling
Wassermannzeit
IX. Weg des Wissens
Sanfte Verschwörung
Am Ende des II. Weltkrieges wurde Deutschland zwischen Ost und West am 10. Längengrad, dem geographischen Übergang Fische — Wassermann geteilt. Der Osten wurde sozialistisch, der Westen kapitalistisch. Im Osten ist der Aspekt des Fühlens, im Westen jener des Empfindens im Vordergrund.
Das Gleiche wiederholt sich weiter südlich, doch ohne Ideologie im Verhältnis von Österreich und der Schweiz. Österreich im Zeichen des sozialen Denkens verwirklicht die alte Konzilianz der Reiches, wo nie das Gespräch zwischen politischen Gegnern und Sozialpartnern abgebrochen wird und keine ideologische Richtung Bedeutung gewinnt. In der Schweiz ist die wirtschaftliche Gesundheit im Vordergrund, getragen von einer partikularistischen Ideologie, die aber gleichzeitig humanitäre Einrichtungen wie den ehemaligen Völkerbund und das Rote Kreuz fördert und betont. Hier sind Geld und Wollen ausschlaggebend, das Bestehen auf der lokalen Eigenart.
Auf der Erde verschwanden binnen kurzem alle kolonialen Herrschaften, die Reiche gehören der Vergangenheit an. Die einzig existenten politischen Kräfte sind der sozialistische Osten und der kapitalistische Westen, die nördlichen Industrieländer und die südlichen Entwicklungsländer.
Alle traditionelle Autorität ist untergraben, was zu einem Generationenkonflikt von nie gekanntem Ausmaß führt. Die Alten glauben, ihre Pflicht in der patriarchalischen Ideologie getan zu haben und werden nicht mit der Grausamkeit der wissenschaftlich aufgezogenen Konzentrationslager, oder der politischen Unaufrichtigkeit und materiellen Rücksichtslosigkeit der jüngsten Vergangenheit fertig. Die mittlere Generation um 1968 entlarvte die Scheinheiligkeit der vermeintlich geistigen Traditionen als Überbauten handfester Überlebensinteressen. Die jüngste Generation wendet sich gegen die mittlere, weil sie zwar das Negative angeprangert hat, doch nichts Positives dagegensetzen konnte.
1978 wurde der Aufstand der Studenten durch die psychologische Wandlung des amerikanischen Human Potential Movements überlagert; die traditionelle materiale Ethik wich der Selbsterfahrung und Gruppendynamik; es entstanden die humanistische und transpersonale Psychologie; auch im wirtschaftlichen Leben begann Mitmenschlichkeit wichtiger zu werden als Profitstreben.
1988 mit der russischen Perestroika und Glasnost, mit Greenpeace und Amnesty International und dem wachsenden Umweltbewusstsein stellt sich gebieterisch die Frage nach dem Sinn des Lebens in der technologischen Gesellschaft.
Die wissenschaftliche Methode zeigt ihre Grenzen. Sie kann nicht das Ganze verstehen. Alle analytischen Prognosen weisen in die Katastrophe. Daher tritt das ganzheitliche Denken in den Vordergrund. Ideologien verlieren sowohl national als auch übernational ihren Boden. Die meisten Kongresse sind gegen ausschließliche Bekenntnisse und Persönlichkeitskult gerichtet.
Die fünf früheren religiösen Wege — Magie, Mythos, Mystik, Ethik und Glaube — sind als Philosophie des New Age zurückgekommen und haben bereits zehn Prozent der Weltbevölkerung ergriffen. Die Wassermannzeit als Wiederkehr vom Weg des Wissens ist nicht mehr zu übersehen, auch die Politiker müssen sich mit ihr auseinandersetzen.
Der Rahmen der Reiche trägt nicht mehr, der Regionalismus erstarrt überall, und die Frauen verlangen gebieterisch ihre Gleichstellung in der Gesellschaft. Keine politische Organisation vereint die sich bildenden Netzwerke, die auf unterer Ebene durch die Computer getragen werden, auf oberer durch das persönliche Anliegen jedes einzelnen, die Gesamtheit seiner Anlage zu verwirklichen. Im Unterschied zur patriarchalischen Religion gibt es keine Rechtgläubigkeit und keine Irrwege mehr. Seit dem vatikanischen Konzil 1963 hat auch die katholische Kirche jeden Weg zum Göttlichen als gleichberechtigt anerkannt. Theokratische Reiche wie im Islam führen Rückzugsgefechte, ihre Tage sind gezählt. Wie Jean Houston formulierte: Die Sonne scheint besonders groß bevor sie untergeht.
Erde und Kosmos sind zur Umwelt geworden; die Menschheit übernimmt die Rolle der Noosphäre, des denkenden Gehirns für die Welt. Die geographische politische Gliederung weicht der kulturellen psychischen Rolle jedes Landstrichs, die wir senkrecht im Achterkreis und waagrecht in den Tierkreiszonen entschlüsseln können.
Die Wassermannzeit ist wieder solar und nomadisch. Wie im alten Europa und in Indien erzeugen die Landstriche Begabungen, die dann auf bestimmten Orten der Welt ihre Rolle finden. Das VI. Haus des Weltenjahres ist Gott der Freund (IX. Haus des Lebenskreises), Arbeiter, und das gemeinsame Verwirklichungsziel ist die Weltgemeinschaft (VII. Haus des Sonnenhoroskops).
Durch den gleichsam wissenschaftlichen Sündenfall der deutschen Geschichte kann diese nicht mehr als seelische Kontinuität verstanden werden; aber auch die Geistigkeit muss dem akademischen Elitarismus entsagen und zu dem werden, was die Franzosen als Republique des Lettres
bezeichneten: nur jener kann in der verdinglichten Welt, deren Schrecken von Horkheimer so eindringlich beschrieben wurde, sinnvoll überleben, der seine Spontaneität wiederfindet und die öffentliche Ordnung als Summe von Spielen versteht, denen er sein eigenes hinzufügt, ohne die anderen zu verletzen.
Freimaurer und Illuminaten waren bereits Sinnbilder der kommenden Zeit im 18. Jahrhundert. Doch der Akzent ist heute im Zeitalter des Körper-Denkens von der Esoterik auf die Rationalität gerückt; kein Bekenntnis schafft mehr Gemeinsamkeit. Jeder, den man fragt, antwortet heute mit seiner eigenen Auffassung; es gibt keine verpflichtenden Traditionen mehr, auch die esoterischen sind gleichsam zu Kochbüchern geworden. Doch der Eklektizismus ist nicht mehr Historismus. Er ist auf die geistigen Bedürfnisse des einzelnen bezogen, der ausgehend von der Kombinatorik der Komponenten des Rades als Weltgrammatik jedem zur Verfügung steht, der zu seiner Selbstaktualisierung im Sinne Goethes durchbricht.
Nur wer vom neuen Raster ausgeht, kann in der technologischen Zivilisation seinen Sinn erfassen und verwirklichen.
Gegensätze sind überholt, entweder oder weicht dem Sowohl als auch. Westliche und östliche Ideologen betrachten mit Recht alle gegenwärtigen religiösen Traditionen und kulturellen Formen als Bemäntelungen des Selbsterhaltungstriebes von Gruppeninteressen, deren kapitalistischer Ausdruck die multinationalen Konzerne und Banken, und deren sozialistischer Ausdruck die politischen Parteien und Gewerkschaften sind. So ist die Religion zum ersten Mal in der Geschichte frei, keiner vertritt mehr die absolute Wahrheit. Diese ist auch nicht in der Natur im Sinne des kritischen Realismus und Positivismus zu finden, sondern in der freien freundschaftlichen Verbindung aller jener, die die Sprache zum Dialog verwenden.
Die Verfolgung der Vertreter der Wassermannzeit seitens des Establishments in Ost und West, Nord und Süd verlangt nun, sich aller Angriffe zu enthalten und nur das im Sinne des Ahimsa oder Wu Wei zu verwirklichen, was gerade gesellschaftlich möglich ist. Denn wer friedfertig ist und nicht angreift, der kann auch selbst nicht angegriffen werden. Er muss doppelt leben im Sinne der Controlled Folly von Don Juan: einerseits die Angstgesellschaft aller vier Provenienzen nicht verletzen außer durch Narretei und Humor, andererseits aber denen, die Freunde Gottes werden wollen, als Polarisator zur Verfügung stehen.
Die Dynamik der kommunistischen oder kapitalistischen Bewegung ist durch die Statik der neu entstehenden Gesellschaft ersetzt. Überall existieren gleiche Probleme, die sich allesamt auf die ganze Erde beziehen. So werden die Überreste lokaler Ideologien noch Katastrophen verursachen, die aber die Herankunft der neuen Ökumene beschleunigen; ohne Schmerzen geht man nicht zum Zahnarzt, und wenn eine Generation eine existentielle Problematik verleugnet, wird die nächste sie schon aus politischen Gründen als Weg zur Machtergreifung auf ihre Fahne schreiben.