Schule des Rades

Arnold Keyserling

Wassermannzeit

II. Methexis

Holistisches Wissen

Die abendländische Wissenschaft hat ihren Ursprung in der Unterscheidung zwischen Doxa und Episteme, Meinung und verstandenem Wissen. Der Bereich der Episteme ist notwendig kleiner als jener der Meinung. Daher versucht die Epistemologie, das gesicherte Wissen in Forschung und Lehre zu beschränken und zu systematisieren, auf dass es dem denkenden Subjekt als Strategie zur Verfügung stehe.
Tatsächlich ist dieses Wissen aber auf Überleben gerichtet und hat keinen Bezug zum Sinn des Daseins. Es gibt nicht nur epistemologisches Wissen; es gibt auch das Wissen der Ganzheit. Für dieses prägte Jan Smuts den Begriff Holistik, und später bestimmte Arthur Koestler die Wesen des All durch den Begriff des Holon: jedes Wesen sei nach unten, seiner Welt zu ein Ich, aber nach oben zu, Teil eines größeren Ganzen, so der Mensch Teil der Gattung Mensch und des Göttlichen.

H o l o n

Ein Mensch verfügt in gleichem Maße über holistisches Wissen wie über Einzelwissen. Wie die Wissenschaft, so enthält auch das holistische Wissen oder die Philosophie Elemente, Beziehungen und Zusammenhänge, die aber nicht die Brücke zwischen Mensch und Welt schaffen, sondern seine kosmische Gliedhaftigkeit zeigen. Dieses Wissen bezeichneten die Griechen als Methexis. Wir müssen es verstehen, um die Thematik der Wassermannzeit zu begreifen.
In der Kosmogonie waren wir bis zur Stufe des Wachens vorgedrungen, das im Rahmen der Woche die lunaren Planeten in die Sonne integriert. Doch darüber hinaus gibt es Kreisläufe, die nicht der sinnlichen Beobachtung, sondern nur dem Denken zugänglich sind und die Schwelle zur höchsten Stufe des Gewahrseins überschreiten: Uranus mit 84 Jahren Umlauf, Neptun mit 165 und Pluto mit 245 Jahren. Thomas Ring erklärte, Konstellationen dieser Planeten seien in Horoskopen bis in die Sechzigerjahre nur als kollektives Schicksal zu begreifen gewesen, wie etwa das Leiden durch den Nationalsozialismus und den Stalinismus in vielen Themen zutage trat. Tatsächlich waren alle drei mit Revolutionen verknüpft:

  • die Entdeckung des Uranus war gleichzeitig mit der amerikanischen Revolution, die zum erstenmal die Menschenrechte und den Fortschritt zur Leitidee des Staates machte, im Einklang mit den Idealen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution.
  • Die Entdeckung des Neptun fiel mit der Veröffentlichung des kommunistischen Manifests und der natürlichen Evolution durch Charles Darwin zusammen,
  • und schließlich die Entdeckung Plutos koinzidierte mit der ersten Atomspaltung und dem Beginn des II. Weltkriegs, durch welchen die Reichsideologien endgültig von der politischen Bildfläche verschwanden.

Uranus wurde mittels des Teleskops entdeckt, Neptun und Pluto durch Berechnung der Abweichung der Bahnen anderer Planeten und Kometen nach Ort und Zeit erschlossen. Damit halten wir bereits die Voraussetzung des Denkens als Schlüssel zur höchsten kosmogonischen Stufe des Gewahrseins: dem Denken muss man in anderer Weise vertrauen als den Sinnesdaten der Empfindung, den Trieben des Fühlens und den Entscheidungen des Wollens. Man muss das Denken nach Zahl und Maß, nach Mathematik und Logik prüfen und dem spekulativen Ergebnis vertrauen, es als Weg verwenden, wie es einst die vorsokratischen griechischen Philosophen unternommen haben.
Das Denken wird zum Gedächtnis. Ein sinnvoller Satz wird dem Wissen integriert, ein sinnloser kann nicht integriert werden. Man kann etwas Sinnloses nicht verstehen; man kann aber auch nicht zweimal das gleiche verstehen. Daher ist der Fortschritt vom Wachen zum Gewahrsein an die denkerische Spekulation gebunden und hatte seinen historischen Ausgangspunkt bei den Vorsokratikern, die das erste Mal das Denken als Weg zur Aletheia, der Unsterblichkeit des Nichtvergessens, gewählt haben.

Arnold Keyserling
Wassermannzeit · 1988
Visionen der Hoffnung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD