Schule des Rades

Arnold Keyserling

Weisheit des Rades

6. Kosmische Einstimmung

Bedeutung der Laute

Die ursprüngliche Bedeutung der Laute ergibt sich aus der Struktur des Sprechwerkzeugs: wir unterscheiden Vokale, Konsonanten, Töne und Aspiration. In den Konsonanten ferner stimmhafte und stimmlose Laute.

Aspiration bedeutet Geist, stimmlos Körper oder Widerstand und stimmhaft mitschwingend oder Seele. Aus der Struktur des Sprechwerkzeugs ergeben sich neun Konsonant-Arten, von denen jede Sprache bestimmte herausgegriffen und andere vernachlässigt hat. Warum sprechen die Deutschen nicht das th, warum fehlt den heutigen Russen, Franzosen und Griechen der Hauchlaut, warum kennen Engländer und Inder keine Umlaute, warum verwechseln die Chinesen R und L? Eine Theorie meint, dass jede Landschaft auf Grund ihrer Resonanz bestimmte Laute bevorzugt. So verläuft französisch zwischen 2.000 und 8.000 Hertz, englisch geht auf Grund der Zischlaute bis 16.000, russisch hat den ganzen Reichtum der Laute von 800 bis 20.000, chinesisch unterscheidet Tonhöhen als Sinnträger. Warum wirkt ein Dialekt, wo er nicht üblich ist, lächerlich? All das sind wissenschaftliche Fragen, die sicher einmal geklärt werden. Was aber für uns heute wichtig ist, betrifft die ursprüngliche Rolle der Laute als Bedeutungsträger. Diese hat Alain Daniélou aus der shivaistischen Tradition geklärt.

Es gibt neun lauterzeugende Zonen im Gaumen, von denen jede einen Hauchlaut, einen stimmhaften und einen stimmlosen hervorbringen kann, welche ferner hart oder weich sein können. So ergeben sich vierundfünfzig Laute.

Diese verlaufen von hinten nach vorne, ihre Bedeutung entspricht jener der neun Ziffern und Planeten. Wir wollen sie nun im einzelnen schematisch darstellen, um dadurch zu einem kritischen Verständnis des magischen Anrufens zu gelangen.

Von hinten nach vorne gliedern sich die Mitlaute, die Konsonanten in folgender Reihe als fünf primäre und vier sekundäre Lauterzeuger. Ich beschränke mich hierbei auf jene Laute, die wir auf deutsch gebrauchen:

1  Jupiter
2  Venus
3  Uranus
4  Mond
5  Merkur
6  Neptun
7  Mars
8  Saturn
9  Pluto
primär
Hauch

Gurgel

Zunge

Zähne

Lippen
sekundär

Hauch-Gurgel

Gurgel-Zunge

Zunge-Zähne

Zähne-Lippen
aspiriert

ch
ng
sch

t
s
f
p
stimmhaft
Ton
j
g
r
l
n
s
w
m
stimmlos
Schrei

kh
r
l
d
ss
v
b

Die Reihung geht von hinten nach vorne, folgt also den natürlichen Zahlen. Dies ermöglicht uns, die Bedeutung der Lauterzeuger als Ursprung der Mantras zu begreifen. Der Bruch des Menschen, der das unglückliche Bewusstsein herbeiführt, ist die Trennung des sprechenden Selbstes, des Wortleibs der Seele vom magischen Kind. Gelingt es uns, jenen Zeitpunkt wiederzuerwecken, da das Kind selbst in die Sprache vordrang, erreichen wir wieder das magische Wort.

Gemäß Pierre Janet und Tomatis gibt es in der Sprachentfaltung vier Stufen:

  1. Das Lallen, Ausdruck der Emotionen, Heiterkeit, Trauer und Wut.
  2. Die Erkundung des akustischen Milieus, wo das Material des Denkens und des Assoziierens in Lautsalaten ohne Sinn aufbereitet wird.
  3. der Beginn der Doppellaute — Mama, Papa, Miam-Miam — und des Versuchs, sich mit der Mutter sprachlich zu verständigen und damit die Trennung der beiden Hemisphären. Stimmgerät und Ohr sind rechts und links in verschieden langer Verbindung, der eine Nerv schafft eine direkte Verbindung, der andere macht einen Umweg um das Herz und ist mit dem Vagus verknüpft. Wie das zweifache Sehen ist auch das zweifache Hören — der Unterschied der Übermittlung auf elektrochemischem Weg beträgt etwa ein Zehntel Sekunde — die Voraussetzung zur Orientierung.
  4. das grammatikalische Bewusstsein, die Fähigkeit, Information objektiv zu empfangen und analytisch auf Grund der Grammatik zu kommunizieren.

Unsere Beschreibung von Kraftleib, Lichtleib und Wortleib gehört der vierten Stufe an: sie bildet die Urstimmung des Gemüts, die Weltgrammatik, die nicht zu einer historischen Kultur gehört, sondern zu welcher die verschiedenen Traditionen einen bestimmten Zugang ermöglichen. Heute muss aber jeder die Bewusstseinsschwelle überschreiten. Persönlich aber gilt es zur zweiten Stufe zurückzugehen, in welcher die Stimme als Träger des Lebens und Glied der Gattung Mensch die Vereinigung mit dem magischen Kind wiederherstellt.

Der Hauchlaut ist geistig. In der Runenüberlieferung ist Hagal H a g a l die Einstimmung in das All. Die Konsonanten haben eine körperliche Bedeutung, und die Vokale eine seelische.

Hauch. Der Geistige Laut, der die kosmische Einstimmung erzeugt, ist der Hauchlaut H, das gemeinsame Atmen und Seufzen. Atmen bringt Luftenergie; wo geatmet wird, da wird geheilt. So ist das gemeinsame Hauchen die geistige Einstimmung. Conspirare heißt auf lateinisch sich verschwören, gemeinsam atmen, an der gleichen Intention teilnehmen. Krank ist der Mensch dann, wenn er den Zusammenhang mit dem großen Lichtfeld verloren hat. Der Hauchlaut hilft ihn als große Gemeinsamkeit, platonisch Methexis, wiederzugewinnen.

Völker, die den Hauchlaut nicht mehr haben, neigen dazu, nur formulierten Geist anzuerkennen, sich als Teil einer sprachlichen Kultur, einer Weltanschauung zu bekennen. Durch Betonen und Artikulieren des Hauchlauts — indem man auf ihn lauscht wie zwei Liebende auf den gemeinsamen Atemrhythmus — wird diese Schwelle überwunden.

Jeder der neun Konsonanten hat eine besondere Bedeutung.

  1. Jupiter: Körperlich ist der erste Laut der Urschrei, der aus der Tiefe des Bauches herauftönt und in vielen Therapien die große Befreiung vermittelt. Wer sich traut, diese Uremotion laut werden zu lassen, hat damit das magische Kind erweckt. Auch hier ist die gemeinsame Lautwerdung eine Hilfe, das Menschen einander nicht nur als soziale Personen, sondern auch als Triebbündel, als magische Kinder begegnen. Seelisch hat die gleiche Wirkung das Singen. Der Unterschied zwischen Laut und Ton ist des letzteren Fähigkeit zur Resonanz. Ein Laut hat die Kraft der Erde, weist auf seinen emotiven Ursprung zurück und bringt nichts anderes zum Mitschwingen; er wird nur bemerkt als ein Dies-da. Doch ein Ton schafft sofort bestimmte Intervallverhältnisse zum anderen. Es ist unmöglich, bei reinem Singen nicht heiter zu werden — natürlich nicht kulturelles Singen sondern ein solches, das nur die Stimme zum Ausdruck bringt, die frei die Intervalle wählt, den Ton von einem zum anderen weitergibt. Das Subjekt der Seele ist die Stimme und ihr musikalisches Gesetz ist genauso gegeben wie die Qualitäten der Zeit und des Raumes.
    Die ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7, 9 sind Schwerpunkte der Lauterzeugung, die geraden 2, 4, 6, 8 sind Zwischenglieder, von den ersten abhängig.
  2. Venus: Ch wie ich, ch wie auch, j als Mitlaut.
    Die Zweiheit vereint Form und Inhalt, bedeutet niedere oder höhere Integration im Sinne von Oberton, höherer Schwingung, oder Unterton, größerer Masse.
    Der Primärton ist das Inbild des Jupiter, die Venus versucht ihm Gestalt zu geben. Die Gefahr der Zweiheit ist gut und böse zu unterscheiden, nur das Licht anzuerkennen und den Schatten, das Dunkel zu leugnen.
    Der griechische Buchstabe Chi, der im Rad das Urkreuz bestimmt, woraus die Zahlen entspringen, war für Platon das Werkzeug des Demiurgen. Durch die drei Laute kann ich mich auf meine Einheit als Gestalt einstellen. Der stimmhafte j-Laut ermöglicht das Mitschwingen. Werden die Laute aspiriert — wie im ich oder stimmlos ach, wie beim Schnarchen oder im Yoga bei Ujai — öffnet sich der Körper der geistigen Energie.
  3. Uranus: Gurgel. Kh als aspiriert, g als stimmlos und ng, der nasale Laut als stimmhaft.
    Diese Laute bestimmen die Entwicklung, die von der jeweiligen Form ansetzt, doch diese dann zu einem höheren Ansatz führt. In der Tonwelt ist Oktave Yin, Gleichklang, höhere oder niederere Integration und Quinte, Yang, als dritter Ton Fortschritt, der zum Quintenzirkel führt. Die Dialektik der Entwicklung ist das Kennzeichen allen Denkens, was in immer neue Zusammenhänge und Problemstellungen führt; kh bedeutet hier bewusster Ansatz in Aspiration, g das Einstimmen in das Neue als Ansatz eines weiteren Schrittes. Die nasalen Laute bestimmen die Gruppe; wen man nicht riechen kann, mit dem kann man nicht zusammen forschen.
  4. Mond: Gurgel-Zunge. Sch als aspiriert, stimmloses r als Körperlaut, stimmhaftes rollendes r als Seelenlaut.
    Diese Laute bestimmen die Erfüllung, die tonal als Oktave wieder auf den Ursprung, den jupiterischen Primärton der Ganzheit, zurückweisen. R hat die Vorstellung eines erfüllten Zusammenhangs wie auf deutsch Recht, rein. Das Zungen-r vibriert und kann deshalb andere zum Mitschwingen bringen.
    Die Erfüllung ist Entfaltung der Möglichkeit bis zu ihrer Fülle, wie es der Mond veranschaulicht. Doch wenn er voll ist, dann nimmt er wieder ab. So ermöglicht der r-Laut oder der Zischlaut sch das Anerkennen der Motivation.
  5. Merkur: Zunge. L und die Klicklaute der Buschmänner, die in unseren Sprachen nicht verwendet werden.
    Der fünfte Ton, die große Terz, reißt den Menschen mit. Die bisherigen Laute liegen hinter der Achse des Körpers im Gaumen, der l-Laut ist die Mitte gemeinsamen Artikulierens. Er ermöglicht wie die Klicklaute Achse zu sein, durch genaues verstehen der eigenen Rolle zwischen Motivation — hinten und Intention — vorne.
  6. Neptun: Zunge-Zähne. T aspiriert, d stimmlos und n stimmhaft.
    L schafft Verbindung wie in Liebe, lachen. T - d - n zeigen die Beziehungen zwischen mir und den anderen bei Anerkennung ihrer Sonderheit, sie schaffen informative Kommunikation. Daher sind sie zu artikulieren, wenn ein Mensch Schwierigkeiten hat, im Verkehr er selbst zu bleiben. Der sechste Ober- Unterton ist Oktave des dritten, baut also auf einer eigenen Entwicklungsrichtung auf. Wer solche nicht hat, ist gemeinschaftsunfähig, ein entsprechendes Mantram wie tadan kann ihm helfen.
  7. Mars: Zähne. Der Kraftton, aspiriertes, stimmloses und stimmhaftes s.
    Dieser Laut wird verwendet, um Energie zu sammeln und auch in der Gruppe zu haben. Hier ist der Neuanfang. Der siebte Ober- Unterton passt nicht in die Zwölftonskala und bildet die Grundlage der Chakras. Er ist der Ton des Stirb und Werde, der Kundalinischlange, die reine Kraft wird potenziert.
  8. Saturn: Zähne-Lippen. Aspiriert f, stimmlos v, stimmhaft w.
    Dieser Laut muss wiederum auf den Grundton des Jupiter abgestimmt sein. Er bedeutet Verantwortung und Macht, tuend im Zusammenhang mit anderen, doch eintretend für die eigene Kompetenz, wie bei Vater, Verwalter, Walter.
    Sieben auf deutsch ist aussieben, trennen; acht ist achten, was nur auf Grund einer Rolle in der Gemeinschaft möglich ist. Das Werden, die Wandlung in der Ablöse der Generationen, ist das Feld des Sinnes dieser Laute.
  9. Pluto: Lippen. Aspiriert p, stimmlos b, stimmhaft m.
    Der bergende Laut wie bei Papa und Mama, die Fähigkeit seine Ganzheit in Raum und Zeit zu wahren und gleichzeitig Schritte zu tun. In der Ober- Untertonreihe bildet die große Sekund das Sechseck im Kreis der Intervalle, den eigentlichen Schritt. Nur durch Einbeziehung von Raum und Zeit kann ich als Wortleib der Seele, als ein Bestimmter meine Integrität wahren. Daher bildet der neunte Ton den Abschluss, die endgültige Sicherheit und schafft auch die Überwindung des Todes, die Geborgenheit im Urlaut OM, wenn der Mensch nicht sich selbst als Maschine der Unterwelt missversteht, als Experte der ewigen Wiederholung.

Hätten die Laute keine Bedeutung, könnte niemals das Wort eine haben. Die neun Ziffern sind immer der letzte Sinn eines Wortes. Die kabbalistischen Traditionen wie die jüdische und die germanische haben sie mythifiziert. Durch physiologische Kenntnis der Laute kann ein echter Lautschlüssel aufgebaut werden, und es lässt sich auch der augenblickliche Schwerpunkt eines Namens erkennen, über den allein man die Kraftwesenheiten der Erde und die Lichtwesenheiten des Himmels einbeziehen kann — wozu sie in jedem Augenblick bereit sind. Doch hierzu müssen wir die Vokale begreifen, deren Erzeugung senkrecht zu den Mitlauten verläuft, und die an bestimmten Stellen des Körpers ihren Schwerpunkt haben: die Chakras.

Arnold Keyserling
Weisheit des Rades · 1985
Orphische Gnosis
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