Schule des Rades

Arnold Keyserling

Weisheit des Rades

3. Lichtleib des Geistes

Das dreifältige Verständnis des Menschen

Heutigen Historikern ist der frühmittelalterliche Streit um das Dogma der Dreieinigkeit schwer verständlich. Seine wahre Bedeutung wird erst klar, wenn man begreift, dass das wesentliche Anliegen das dreifältige Verständnis des Menschen selbst war, der im Bilde Gottes als Körper, Seele und Geist geschaffen wurde. Während die offizielle Kirche letztere Lehre seit dem 10. Jahrhundert ablehnte — der Körper sei dem Kaiser untertan, die Seele dem Papst, und den Geist hat Gott nur allein — wirkte sie in der Mystik weiter, wie folgender Text aus einer Predigt des Meister Eckhart zeigt:

Spricht die Seele, als Braut im Hohen Liede: Ich habe nun den Kreis der Welt umlaufen und konnte ihn doch nie zuende kommen. Darum habe ich mich in den einigen Mittelpunkt geworfen, denn der hat es mir angetan mit seinem Anblick. Der Kreis, den die liebende Seele durchlaufen hat, ist die hochwürdige Dreifaltigkeit und alles, was sie geschaffen hat in Zeit und Ewigkeit… In alle Geschöpfe und besonders in die mit Vernunft und Rede begabte Seele, haben die drei göttlichen Personen ihr Eigenbild geprägt.
Wenn sie den Kreis eifrig durchläuft und ihn doch nicht zu schließen vermag, dann wirft sie sich in seinen Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt ist das Schöpfungsvermögen der heiligen Dreifaltigkeit, kraft dessen die drei selber unbewegt alle ihre Werke vollbracht haben. In ihm wird nun auch der Seele schöpferisches Allvermögen zuteil.
Arnold Keyserling
Weisheit des Rades · 1985
Orphische Gnosis
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD