Schule des Rades

Arnold Keyserling

Weisheit des Rades

6. Kosmische Einstimmung

Hypnagogik

Jede der Konstituenten des dreieinigen Menschen hat ihr Reich:

  • die Seele die Zivilisation,
  • der Körper das Leben und
  • der Geist die Bilder.

Doch ihre Vereinigung ist die vierte Konstituente, die erst heute in der Wassermannzeit zugänglich wird. Sie hat einen Träger:

  • es ist die Stimme des Wesens, die Fähigkeit des Identifizierens, wodurch der Mensch an der großen Gemeinsamkeit teilhat.

Die apollinische Religion des Mythos — Apollo hieß Klarheit und Traum — folgt der bildhaften Vision und ist fordernd. Die dionysische orgiastische Religion der Einstimmung in die Erdgöttin ist bergend und heilend. Die prophetische seelische Religion ist letztlich Ethos des Verhaltens, hat ihren transzendentalen Bezug verloren und bedeutet die Zivilisation, deren Urbild der Tierkreis und die Motivationen der Planeten sind. Doch das Wesen, das dem göttlichen Sein des Menschen im All zugehört, wird über die Stimme geschaffen. Sein Ursprung ist die orphische Religion, die erst heute nach Erkenntnis der Gesamtheit der Komponenten des menschlichen Gemüts einsichtig wird.

Der Mensch lebt im Werden und Vergehen. Der Sinn seines Daseins — Klarheit, Dauer und Integration — verlangt die Vereinigung der drei Reiche.

  • Im embryonischen Zustand ist der Kraftleib im Vordergrund,
  • nach dem Tode der Lichtleib.
  • Doch während der irdischen Existenz ist der Schwerpunkt im Wortleib der Seele.

Um nun die drei zusammenzufügen, gilt es die fünf Schichten des Bewusstseins in ihrer Eigenheit zu begreifen, wie wir sie bereits angedeutet haben:

  • Die erste Stufe des Empfindens und des Geistes hat ihren Schwerpunkt im Wachen.
  • Die zweite, der Sprache, vereint denken und Seele.
  • In der dritten des Körpers und der Gefühle werden die Triebe bewusst,
  • und im Wollen, das die innere Leere der Aufmerksamkeit voraussetzt, ist die Fähigkeit der Wahl und Entscheidung.

Durch die Entdeckungen von Lozanov ist die Beziehung zwischen Bewusstseinsstufen, Gehirnströmen und Integration klar geworden. Jede Nacht durchläuft der Mensch im Schlaf alle Bewusstseinsschichten mit Ausnahme des überbewussten Gewahrseins. Sie unterscheiden sich durch die Schwingungsfrequenz:

Δ
Der Schlaf hat die Frequenz zwischen 1 und 3 Hertz, die Deltawellen.
θ
Der Visionstraum erscheint zwischen 4 und 7 Hertz in den Thetawellen.
α
Das Denken und der REM-Traum der Seele verlaufen im Bereich der Alphawellen zwischen 8 und 15 Hertz.
β
Das Wachen des Empfindens und des Geistes ist im Bereich der Betawellen: 16 Hertz ist die Schwelle aller Sinneswahrnehmungen, z. B. der erste hörbare Ton.
  • Das Gewahrsein bedeutet, einen Sinn zu erkennen und ist die Grundlage der Vision, die das Wesen hinter der Erscheinung wahrnimmt. Es ist zwischen 31 und 64 Hertz.

H y p n a g o g i k

Mitte der Vereinigung der Bewusstseinsschichten im Bereich von Seele und denken, der Person, ist die Stimme, die Wort und Resonanz erzeugt. Orpheus konnte mit seinem Singen Tiere und Pflanzen, Geister und Menschen ansprechen, und durch die Musik auf die Ebene des gemeinsamen Sinnes und der Liebe im Gewahrsein führen. Musik ist das Weben der Welt, die im Denken nach Raum und Zeit getrennt erlebt wird.

Selbst die im Hades der ewigen Wiederholung gefangene Seele, Eurydike, hätte Orpheus zurückbringen können, hätte er sich nicht umgedreht und in seine Vergangenheit verloren. Noch nach dem Tod sang sein abgetrenntes Haupt weiter, weil die singende Stimme die Kontinuität über alle Inkarnationen und Welten ermöglicht.

Das Wissen des Körpers ist die Bedeutung der Kraftrichtungen; die Bildung des Geistes die Begegnung mit den acht Wesenheiten; das Verhalten der Seele die Erschaffung der Dauer, mit der allein ein persönlicher Sinn aktualisiert werden kann. Doch Träger dieses Sinnes ist die Stimme des Menschen, die Urstimmung des Gemüts als formale Vereinigung von Körper, Seele, Geist, empfinden, denken, fühlen, wollen im Gewahrsein ist die Voraussetzung der Erkenntnis der persönlichen Be-stimmung als Zugang zum Sinn, der aus der Dichtung entsteht.

Dichtung verlangt eine einsichtige Grammatik. Doch ist sie nicht Grammatik wie die Wissenschaft, sondern sie verwendet deren Gesetze in freier Kombination zu einer persönlichen Synthese von Welt und Bewusstsein.

Sein als grammatikalische Copula ist die Chiffre für das Göttliche, für den intensiven Zusammenhang alles Bestehenden. Wesen hat eine Vergangenheit, eine Geschichte, deren Rahmen der Weg zur Vollendung ist, die nicht nur Ziel, sondern Tor zu einer höheren Existenz bedeutet; Gurdjieff bezeichnete diese als kosmisches Individuum. In diesem Verstand arbeiten wir aber nicht nur als einzelne, sondern auch als Gruppen an der Entfaltung der Menschheit mit.

Geschichte ist nicht notwendig; es gibt Menschen, die nie eine persönliche Anstrengung machen und denen das bloße Überleben genügt. Der Mensch ist frei, auch faul zu sein. Der Natur und den Göttern ist das gleichgültig, sonst wäre er ja nicht frei. Doch der Mensch im All als innerstes Subjekt eines jeden ist ein inneres Postulat, das sich zwischenmenschlich als Liebe und persönlich als Sinnsuche offenbart.

Der Niederschlag vergangener Bemühungen sind die bestehenden Sprachen, welche allesamt nicht nur wissenschaftlich sind — also eine erkennbare Grammatik und Etymologie besitzen, die man sachlich erlernen kann — sondern auch bestimmte Forderungen artikulieren. Ein Wort wie das englische fairness wird als ethisches Postulat verstanden, des gleichen die platonischen Ideale von Schönheit, Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit als Komponenten der befreiten Seele, als Vollendung der vier Funktionen. Während die Grammatik des Rades horizontal zu verstehen ist, wird die Geschichte der Bemühungen in einer Sprache vertikal aufgefasst und hat ihren Niederschlag in einem Schlüssel gefunden, den man jüdisch als die Kabbala bezeichnete.

Die neun Wortarten als Kriterien der Information und Kommunikation sind in jeder Sprache gleich, sie sind physiologisch zu begreifen. Doch die Worte haben ferner einen Ursprung in den Buchstaben. In fast allen Überlieferungen wurde eine Deutung des Strebens in Wortbildungen verfasst, die den hörenden Menschen eine gewisse Einstellung nahelegten. Ein Mantra im Sanskrit ist eine Lautfolge, die eine bestimmte Geisteshaltung erzeugen soll und gleichzeitig einen Schlüssel bildet, um mit den Kräften des Körpers und den Visionen des Geistes, vor allem aber mit den Wesen, die hinter diesen stehen, in Beziehung zu treten. Buchstaben werden oft Zahlen gleichgesetzt. Auf hebräisch war Buchstabe und Zahl gleichlautend; so hatte jedes Wort einen kabbalistischen Zahlenschlüssel und wenn man die Worte gleicher Zahl vergleicht — wobei sie sich immer in der Quersumme auf eine der neun Ziffern zurückführen lassen — hatten viele Sprachen eine unterbewusste Weltanschauung, die für die Juden in der Kabbala und die Germanen im Futhork die Grundlage ihrer Tradition und Lehre bildete.

Solange die Nachfolge eines Heiligen der einzige Weg des Menschen war, blieb die Verschiedenheit der Traditionen unvermeidlich; nur im Rahmen eines Bekenntnisses, einer Sprachgemeinschaft gab es Aufstieg und Erlösung. Wenn aber heute jeder Mensch berufen ist, volles Glied der Gattung und des Planeten zu werden, so müssen wir auch hier von zufällig-historischen Bedeutungsschlüsseln zu einem kritischen Verständnis gelangen.

Der Mensch als Wesen ist Stimme, die spricht und antwortet. Nur über das seelische Wollen können Wesen und Kräfte des All angesprochen und beschworen werden. Daher stellt sich die Frage nach der Ursprache, der Urbedeutung der Laute. Hier gibt es viele Theorien, von den sechs Ursilben Vesters bis zum nationalen Größenwahn, dass etwa hebräisch oder sanskrit die Ursprache sei. In Christus, kündet die christliche Überlieferung, sei Gott Fleisch geworden. Im Reich des heiligen Geistes, der für das europäisch-traditionelle Denken die Wassermannzeit bedeutet, muss heute das Fleisch Wort werden. Wir müssen aller Geschichte, aller Tradition entsagen — ohne ihren Wert zu vernachlässigen — um zu den Dingen selbst zu kommen, die Tatsachen sprechen zu lassen. Die Tatsachen der Sprache, die Geist, Seele und Körper vereint, sind die Laute und die Töne, die Welt des Schalls, welche von der Stimme hervorgebracht und vom Ohr im Luftleib vernommen werden.

Arnold Keyserling
Weisheit des Rades · 1985
Orphische Gnosis
© 1998- Schule des Rades
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