Schule des Rades
Arnold Keyserling
Weisheit des Rades
1. Sprache des Rades
Tonkreis - Lambdoma
Ein Ton ist eine regelmäßige Schwingung des Schalls; eine unregelmäßige Schwingung ist ein Geräusch. Ursprung des Tones ist ein Rhythmus. Der Grundrhythmus der Erde ist die Sekunde, auf die wie gesagt das menschliche Gewahrsein eingestimmt ist.
Die Sekunde ist unterhalb der Sinnesschwelle des Empfindens, die bei 16 Hertz liegt. So wird Zeit über das Empfinden als Ton wahrnehmbar und offenbart Qualitäten, die dem heutigen Weltbild fremd geworden sind, aber von den Orphikern, insbesondere Pythagoras eindeutig in ihrer Systemik bestimmt wurden.
Der Schall umfasst Geräusch und Ton. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass Geräusch nur Druck erzeugt, während Ton andere potentielle Tonerzeuger in Resonanz, also Mitschwingen versetzt.
Der unterste hörbare Ton hat den Tonwert c mit 16 Hertz: er wird daher als Grundton aufgefasst. Die Anzahl der Tonwerte ist geringer als die der Töne, weil Oktave als Gleichklang gehört wird: 2 = 1 und 1 = 2. Was immer diese Form aufweist, sich verdoppelt oder halbiert, behält in der Natur die gleiche Identität.
Wir verstehen die Welt des Schalls in sieben Schichten, von denen jede eine eigene Qualität hat. Die Lehre von den Entsprechungen gilt heute als analog; doch ihr Ursprung ist die Identität der Oktave. Somit bestimmt der gleiche Sinn etwa eine Schwingung des Atoms, einen von Menschen gehörten Ton, und die Umlaufzeit eines Planeten.
Wir müssen folgende Tonschichten unterscheiden:
- Obertöne
- Untertöne
- Intervalle
- Summations- und Differenztöne
- Tonleitern
- Quintenzirkel als Stimmung
- die Sonderrolle des siebten Ober- und Untertons.
Betrachten wir als erstes die Obertöne. Wir versetzen eine gespannte Saite in Schwingung. Zuerst schwingt sie der Breite nach und erzeugt den Grundton; dann der Länge nach, und da die Schwingung regelmäßig ist, erzeugt sie als Sekundärschwingungen die Obertöne in folgender Reihe:
1
c 2
c 3
g 4
c 5
e 6
g 7
x 8
c 9
d 10
e
Bei der Obertonreihe ist das Verhältnis von Maß und Schwingung physikalisch umgekehrt reziprok: halbe Saitenlänge ist doppelte Schwingung, ein Drittel der Saite schwingt als dreifache Schwingung usw.
Wir müssen zum Verständnis der Obertöne physikalisch Schwingungsbäuche und Schwingungsknoten unterscheiden.
Das erste c erklingt einmal, das zweite in zwei Bäuchen, g in drei usw. Berührt man aber einen Schwingungsknoten, so werden die tieferen Obertöne und der Grundton ausgelöscht: es erklingt der Flageoletton.
Im mathematisch gleichen Intervallabstand vom Zeugerton ist die Gegenform der Untertöne, die bei einer Glocke erklingen. Wird diese angeschlagen, so gehen die Schwingungen auf beiden Seiten erst zum gegenüberliegenden Ort, und dann schwingen sie in beiden Richtungen: einmal der Umfang, zwei Male, drei Male usw. Sie zeigen folgende Tonwerte:
1
c 2
c 3
f 4
c 5
as 6
f 7
x 8
c 9
b 10
as
Währen es Saiten, die erklängen, so würde sich die Saite jedesmal um eine Einheit verlängern.
Zwischen dem Zeugerton, den Obertönen und den Untertönen entstehen folgende Intervalle:
1
¹/₂
²/₃
³/₄
⁴/₅
⁵/₆
⁶/₇
⁷/₈
⁸/₉
⁹/₁₀ Prim
Oktave
Quinte
Quarte
große Terz
kleine Terz
große Sekund
große Sekund
Ganztonschritt
⁹/₈ und ¹⁰/₉ Schwingung werden beide als der gleiche Intervallschritt der großen Sekund, als großer und kleiner Ganztonschritt vernommen. Somit haben die Intervalle eine Toleranz der Resonanz, deren obere Grenze bei diesem Unterschied liegt: ⁹/₈ : ¹⁰/₉ = ⁸¹/₈₀; das von Pythagoras entdeckte diatonische Komma. Hieraus ergab sich in der europäischen Musik der Unterschied zwischen Kreuz- und b-Tonarten. Nur die Oktave hat keine Toleranz.
Der Zusammenhang von Obertönen, Untertönen und Intervallen lässt sich an der Tafel des Lambdoma ablesen. Alle Diagonalen zur Null verbinden gleiche Brüche, Maß- oder Schwingungsverhältnisse, während die Intervalle senkrecht für die Obertöne und waagrecht für die Untertöne erscheinen.
Das Lambdoma bildete zusammen mit dem Gamma, das wir später besprechen werden, das pythagoräische Chi, weiches noch Platon als Werkzeug des Weltenschöpfers beschrieb, doch ohne es mathematisch zu verstehen. Im vorigen Jahrhundert bei Jamblichos wiederentdeckt, wurde es in diesem von Hans Kayser in seiner Bedeutung als Grundfigur der Harmonik erkannt und vielfältig kommentiert.
Durch die Begrenzung der großen Sekund hat jeder Ton drei Obertöne und Untertöne als Tonwerte, wozu die Naturseptime tritt, deren Rolle wir später besprechen werden. Diese Naturtonleiter hat bei c aneinandergereiht folgende Tonwerte:
c d e f g as b c Obertöne
Untertöne
Diese Folge ermöglicht freie Melodie und ist in vielfältiger Verwandlung sowohl bei den Griechen als auch bei den Indern zur Grundlage der Musik geworden. Die Primärintervalle der Obertonreihe große Sekund, große Terz, Quinte, die von c aufwärts führen haben für das Hören Dur-Charakter; die Sekundärintervalle, die von c herunterführen — Quarte und kleine Terz haben Moll-Charakter.
In Ober- und Untertonreihe sind die Intervalle Aspekte der Töne. Ihre Eigenmächtigkeit als Erzeuger tritt durch die Differenztöne und Summationstöne hervor. Nehmen wir als Grundton weiter c, so erzeugen seine Intervalle folgende Töne in der Luft als Summe und Differenz, die lauter erklingen als Ober- und Untertöne:
Differenzton
1 c
3 g
4 c
5 e
6 g
7 x
8 c Intervall
1 c - 2 c
1 c - 4 c
1 c - 5 e
1 c - 6 g
1 c - 7 x
1 c - 8 c
1 c - 9 d Summationston
3 g
5 e
6 g
7 x
8 c
9 d
10 e usw.
Ferner hat jeder der Obertöne oder Untertöne wieder seine eigenen Ober- und Untertöne, sodass sich als Resonanzrahmen eines einzigen Tones der Zwölftonkreis ergibt.
Obertöne
c
d
e
g d
e
fis
a e
fis
gis
a g
a
h
d Untertöne
c
b
as
f b
as
ges
es as
ges
e
des f
es
des
b
Die Obertöne haben ihren Ursprung in der Geraden der Saite. Die Intervalle der zwölf Tonwerte dagegen verlangen einen Raster, durch den die Töne aufeinander abgestimmt werden können. Die Oktave als Identität muss rein erklingen. Keiner der anderen arithmetischen Intervalle kann als gemeinsamer Nenner dienen, sondern nur das geometrische Mittel: das Verhältnis der Tritonintervall c - fis. Er bestimmt geometrisch im Lambdoma die mittlere Diagonale im Verhältnis zu den beiden Seiten, gemäß dem pythagoräischen Lehrsatz a² + b² = c²; a ist 1, b ist 1, also ist c die Zahlengröße oder reelle Zahl, die mit sich selbst multipliziert 2 ergibt.
Mit ihrer Hälfte wurde nun ausgehend vom dritten Obertonintervall der Quinte das Rad konstruiert, dessen Nullpunkt mit dem Tonwert c links oben im Osten steht. Jeder der Intervalle wird im Rahmen der Toleranz temperiert und zeigt eine geometrische Figur, deren Bedeutung wir später bestimmen werden.
, der Triton, bestimmt den Durchmesser von 180°. Die große Sekund erzeugt zwei Sechsecke oder Ganztonleitern:
c
des d
es e
f fis
g gis
a ais
h
Die kleine Terz erscheint als Viereck:
Die große Terz bildet ein Dreieck: c
c es
e ges
gis. a.
Die Quarten kehren rechtsläufig nach zwölf Schritten zum Ausgangston zurück, in einer Spannweite von 60 Halbtönen:
c f b es as des ges h e a d g / c
Die Quinten kehren linksläufig nach zwölf Schritten zum Ausgangspunkt zurück, mit einer Spannweite von 84 Halbtönen:
c g d a e h fis cis gis dis b f / c
Das diatonische Komma taucht auch im Kreis der Naturquinten auf; der fünfte Oberton weicht um ⁸¹/₈₀ vom Quintenschritt ab:
Obertöne | 1 | - | 2 | - | 3 | - | 4 | - | 5 | - | 10 | - | 20 | - | 40 | - | 80 |
Quintenzirkel | 1 | ³/₂ | ⁹/₄ | ²⁷/₈ | ⁸¹/₁₆ |
Damit ist der Rahmen der Tonwelt umrissen, der das Gesetz des Zeiterlebens bestimmt. Wegen der Toleranzgrenze des diatonischen Kommas fallen Vierteltöne und Achteltöne als Resonanzträger in einen der zwölf Tonwerte, 47 wandelt sich etwa zu 48. So ist die temperierte Skala nicht ein Kompromiss, sondern das Gesetz der Urstimmung des Bewusstseins.
Nur der siebte Ober- und Unterton fällt aus dem Rahmen der Stimmung: er passt nicht in den Quintenzirkel. Er verwandelt Zeit in Raum, Linie in Kreis, und die kugelförmig nach allen Richtungen vom Tonerzeuger wandernde Schallschwingung in stehende Wellen. Da bekanntlich jedes Siebtel bei den Obertönen und Untertönen den gleichen Tonwert zeigt, hat auch ²²/₇ diesen Wert; er entspricht laut Archimedes der Zahl Pi, die arithmetisch das Verhältnis von Linie zu Kreis bestimmt und als Schwingung daher eine fortschreitende Welle in eine statische verwandelt und damit Energie in Materie.
Im Lambdoma sind die Tonwerte durch die Brüche ersetzt, weil sie so das Verständnis des Rades ermöglichen. Ferner sind die Brüche auf jene im Radius 10 begrenzt, der letzte Einserwert der Diagonale beträgt ⁷/₇. Diese Brüche des Divisionsfeldes waren für Pythagoras die primären Prinzipien der Harmonik, alle weiteren sind sekundär. Aus ihnen lässt sich das Gesetz der Zeit und auch des Raumes verstehen.
Für die Musiker sind die Elemente und Gesetze der Tonwelt Material der künstlerischen Komposition und vielen sogar unbekannt. Für die Orphiker dagegen bilden sie den Schlüssel zum Verständnis des Kosmos. Der Quintenzirkel entspricht dem Sonnenjahr mit seinen Monaten:
c
g
d
a
e
h
fis
cis
gis
dis
b
f ·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
· Widder
Stier
Zwillinge
Krebs
Löwe
Jungfrau
Waage
Skorpion
Schütze
Steinbock
Wassermann
Fische
Daher beträgt der Lebensrahmen des Menschen analog zum Quintenzirkel als Integrationsschema 84 Jahre, die Umlaufszeit des Uranus.
Der Quartenzirkel mit seinen 60 Schritten — die 60 Jahre der Wiederkehr von Saturn-Jupiter-Konjunktionen — war für die zeitbewussten Chinesen die kleinste historische Zeiteinheit. Er bestimmt die Präzession des Frühlingspunktes durch die Konstellationen, die aber nicht mit c, sondern mit a im Krebs rückläufig das Weltenjahr begonnen hat. Wohl aus diesem Grunde wird der Tonwert auch heute noch mit dem ersten Buchstaben bezeichnet.
Die Planeten haben von der Erde her als Zeitrhythmen die Bedeutung der Obertöne; ihre Bedeutung als Untertöne von der Sonne her wird im fünften Kapitel beschrieben. Von der Zeit her gesehen sind die Umläufe wichtig.
1
2
3
4
5
6
7
8
9 ·
·
·
·
·
·
·
·
· Jupiter
Venus
Uranus
Mond
Merkur
Neptun
Mars
Saturn
Pluto 12
224
84
29
88
164
2
29
249 Jahre
Tage
Jahre
Tage
Tage
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre Zeugerton c
Oktave c
Quinte g
Quarte c
große Terz e
zwei Lebenskreise, g - Quinte
der siebte Oberton des Neubeginns - x
Generationen, Oktave c
große Sekund d.
Die Rhythmen bestimmen die Zeit und damit den Rahmen der Entfaltung von Mensch und Gesellschaft im Nacheinander. Doch das Rad macht auch den Raum zugänglich, der durch das Licht erzeugt, und vom Auge über Form und Farbe wahrgenommen wird.