Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Mensch zwischen Himmel und Erde

IV. Über die Chakren - Betrachtung und Erfahrung

II. Die Bewegung aus der Mitte zu erleben

Was ist das für eine Mitte, drei Finger unter dem Nabel im Unterbauch? Es ist nicht die Mitte der sieben Chakren und auch nicht von der Körperlänge des Menschen. Die Tänzer und Bewegungspädagogen kennen sie als Bewegungsmitte. Der Punkt, wo sich die Achsen kreuzen: rechte Schulter — linkes Bein, linke Schulter — rechtes Bein. Wir können ihn finden, wenn wir uns mit leicht gespreizten Beinen hinstellen, die Finger am Hinterkopf verschlüsselt, die Hüften leicht nach rechts, und den Schultergürtel mit Ellbogen nach links drehen.
s t e h e n d e r - M a n nEr ist der Ausgangspunkt und Ausgleich der Bewegung. Wenn wir stehen, und das Bein zum Schritt anheben, können wir das wohl auch tun, wenn der ganze Rumpf starr bleibt; aber es macht Mühe und nützt den Körper ab. Wenn wir, um das Bein vorzuheben, mit dem 5. Lendenwirbel leicht zurückgehen, hebt sich das Bein wie von selbst. Von diesem Ort geht die ganzheitliche Bewegung, auch das Heben des Armes aus.
Die chinesische Bewegungsmeditation des Tai Chi baut sich ganz auf dem Zentrieren in dieser Mitte, Tandien, auf. In allen kriegerischen Künsten, Aikido, Karate etc., ist es der Ort, wo die Kraft der Vision sich verkörpert. Die Voraussetzung des bewussten Wirkens ist also, im zweiten Chakra, die Japaner nennen es Hara, zentriert zu sein.

Vom Energiestrom aus gesehen, der Erde und Himmel verbindet, ist Muladhara der Zugang zur Kraft (auch zur Schöpferkraft der Sonne) über die Erde. Im zweiten Chakra vereinigen sich Erde und denken. Hier ist Erde das materielle Feld der Verwirklichung, und denken bedeutet Strategie zum nächsten Schritt. Erde ist hier auch das Empfangende, die Leere des Wollens. Es ist der Ort im Körper, wo die Frau den Samen empfängt und die Bewegung der Menschwerdung beginnt.

Denken ist mit Atmung eng verbunden.

Eine wesentliche Gewahrseinsübung des Atems ist so einfach, dass jeder sie gleich ausführen kann. Sie pusten ein paarmal, als ob Sie eine Kerze ausblasen wollten, dann lassen Sie den Unterbauch locker und spüren hinein, mit geschlossenen Augen, ob Sie ein ganz feines Öffnen und Schließen bemerken, wenn es atmet. Sie tun nichts, sind ganz passiv; und wenn Sie versuchen, die Mitte dieser Bewegung festzustellen, sind Sie im Hara.

In der Zen-Meditation des Zazen spielt das Sich-hinunter-sinken-lassen in das Hara eine wesentliche Rolle. Die Körperhaltung ist zwar eine bestimmte, man kann diese Atemweise aber auch am Stuhl sitzend, die linke Hand im Schoß in die rechte gelegt, als ob man eine Schale halten würde, ausführen. Wenn der Körper völlig entspannt, und jede Zelle als Teil des Ganzen in Bereitschaft schwingt, beginnt man langsam und tief zu atmen; und dann: im ausströmenden Atem von Herzhöhe (4. Chakra) behutsam wie eine Schneeflocke hinunterzusinken, bis man im Hara angekommen ist. Dann wartet man, bis der einströmende Atem von selbst einsetzt, von dem das Gewahrsein wieder hinaufgetragen wird.
Im Hinunterfahren ist die Aufmerksamkeit gerichtet. Im Hinauf-getragen-werden nicht. Hier finden wir wieder den Ausgleich von Tun und Lassen: im ausströmenden Atem die bewusste Bemühung, im einströmenden das Geschehenlassen. Das Halbzeit-Bemühen und Halbzeit-Überlassen schließen sich von selbst zur Kontinuität des Gewahrseins, ähnlich dem Trick mit dem weißen Elefanten: Wenn Sie jemandem sagen, ich wohne im ersten Stock, aber denken Sie ja nicht an einen weißen Elefanten, wenn Sie die Stiegen hochsteigen, wird es ihm schwer fallen zu vermeiden, an diesen zu denken.

Auch das vierte Chakra vereint, von den zwei Ordnungen her gesehen, denken und wollen. Seinen Platz finden ist der Leitsatz des vierten. Wie man auf der Landkarte über die vier Richtungen feststellen kann, hier stehe ich, wie jedes Tier in der Natur sein Wirkfeld hat, die Ameise wie der Löwe oder Affe, und gleichfalls innerhalb der Affengesellschaft die Positionen der Mitglieder geklärt werden, so muss der Mensch auch immer wieder seinen Platz finden, von dem er im Gleichgewicht der vier Funktionen wirken kann: — was kann ich, was können andere besser; wann und wie kann ich lernen, wen lehren; wem helfe ich, mache ich Freude, von wem lasse ich mir helfen…

Seinen Platz zu wissen, Älteren und Jüngeren, Weiseren und Unwissenderen, dem Partner gegenüber, in Beziehung zu Freunden, vielleicht auch zu Tieren, Pflanzen, Bergen und Tälern, sich richtig einzuschätzen, gibt diese Ruhe, die Leere des Wollens, die Zufriedenheit, die wir als Offenheit und Herzlichkeit schätzen.

In Vier sind wir in der Mitte zwischen oben und unten. Die Seinskraft des vierten Chakra wird im zweiten zur Kraft der Verwirklichung. Es birgt das Geheimnis des rechten Winkels. Dort treffen sich Senkrechte und Waagrechte.s i t z e n d e r · M a n nWir müssen als unseren Platz finden, vier, um Frucht zu bringen, zwei. Das ist es, was die Atemweise des Zazen fördern möchte. Wir sind kein bloßes Sprachrohr des himmlischen Lichts, das sich vom siebten Chakra direkt im zweiten verwirklichen könnte. Wir müssen unsere Kompetenz, die Weisheit des Tieres im vierten Chakra erlangen, die Schaltstelle, damit das Licht der Sieben, über Sechs, die geistigseelische Einordnung in der goldenen Kette zwischen Ahnen von eh und je und Avatars, den Lehrern — über Fünf, dem inneren Wort — und Vier, dem Platz in der Welt — und dem aus Tonal und Nagual erwachsenden Vertrauen in Drei — sich in Zwei verwirklichen kann, wo ihr die Kraft von Eins entgegenkommt, um zu tun.

Manchmal hört man wunderliche Geschichten von dieser Kraft; zum Beispiel, dass eine Frau einen Baumstamm, den kaum zwei Männer bewegen können, im Bruchteil einer Sekunde weggehoben hat, da er auf ihr Kind gefallen war. Dieses Phänomen ist mir selbst aufgefallen, als ich mit meinem Motorrad, das so schwer ist, dass ich mich beim Schieben äußerst plagen muss, mit einem Freund auf einem schlammigen Feldweg umfiel. Ich war hinten abgesprungen, er lag mit einem Bein unter der Maschine; ich habe sie in einem Augenblick mit den Fingerspitzen aufgestellt. Es ist aber nicht nur die körperliche Kraft, die sich über das Swaddhistana manifestiert, sondern auch die sogenannten Geistesblitze.

Alle archaischen Kulturen kennen den Ort im Unterbauch als Sitz der magischen Verwirklichung. Ich glaube, wenn wir im Tun sind, handeln wir alle magisch, das heißt, es kommen uns die Kräfte zu. Aber so lange wir in der Sorge sind, ob wir tun können, im tun-Möchten, oder der Vorstellung dessen, was wir glauben tun zu müssen, ist der Zugang versperrt; deshalb brauchen wir oft eine Situation der Lebensgefahr, um zu entdecken, dass wir Not wenden können.

Ich weiß eigentlich sehr wenig über dieses zweite Chakra, und freue mich auf die Begegnung mit solchen, die mehr verstehen. Erfahren habe ich seine Wirkung am eindeutigsten in Los Angeles, als mich Swift Deers Frau am zweiten Tage meines Besuchs mitnahm, weil sie in einem Geschäft zu tun hatte. Ich ging ein wenig spazieren, und sah in dieser Stunde zusätzlich zur üblichen Sehweise auch mit anderen Augen. Die Beschreibung würde hier zu weit führen. Als die Stunde um war, hatte ich mich in den Straßen verloren, und bemerkte mit Schrecken, dass ich weder Hausnummer, noch Straße und nicht einmal meine genaue Heimadresse notiert hatte. Was tun? Plötzlich spürte ich im Unterbauch eine Aktivität, ein Spannen und Ziehen, dem ich folgte, und es zog mich buchstäblich vor die große Glasscheibe, durch die ich Mary erblickte, die sich gerade von der Geschäftsleiterin verabschiedete. Der Name Path-Wheel des zweiten Chakras wurde mir ganz konkret demonstriert.

Wilhelmine Keyserling
Mensch zwischen Himmel und Erde · 1985
IV. Über die Chakren - Betrachtung und Erfahrung
© 1998- Schule des Rades
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