Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Mensch zwischen Himmel und Erde
I. Über den Körper in die Erfahrung der Ganzheit
Ganz
Ganz: Es fehlt nichts. Es ist alles wie es ist; ich bin eingebunden, Mitspieler im lebendigen Geschehen und gleichzeitig Mitwisser des Wunderbaren. Die Welt ist für Augenblicke heil.
Mein Blickwinkel — er ist heiliger Geist — ist der einzig heilende, der auch das Unvollkommene als Ganzheit erfasst. In solchen Augenblicken bin ich wahrhaft schöpferisch, denn es gibt nur eines, das ganz ist: Das Ganze.
Der Seligkeit der körperlichen Ganzheit innewerden heißt, mit dem Auge der Schöpfung zu sehen.
Weine nicht
Auge durch das Ich schaue
vertraue
Der Geist kann sich nicht selbst betrachten, er kann nur den Zusammenhang von All und Allem, die Wechselwirkungen in der Welt des Etwas erfassen.
Ich bin ein Etwas in meiner Körperlichkeit;
ein ungreifbarer Wer als Seele
und ein Ganzheit erfassender Geist;
und keines dieser drei, sondern jenes,
das die Dreieinigkeit zusammenhält.
Wo ist die Nahtstelle? Ich bin Nahtstelle.
Was immer mein Geist erfasst, auf Ebenen der Vision, auch wenn er sich anderer Qualitäten von Licht, Ton, Bewegung, Form, Farbe bedient, drückt sich in einer Körperhaftigkeit aus und steht in Entsprechung zu meiner Körperwelt. So ist es offensichtlich, dass, was auf der Ebene der Vision tatsächlich vereinigt oder getrennt wird, auch in unserer Körperwelt die entsprechende Wirkung zeitigt.
Vision ist die bewusste Teilhabe an einem subtileren energetischen Geschehen, das in seiner Wesenheit über Licht, Kraft, Bewegung, Fülle, vielleicht Farbe und Form erfahrbar wird.
Wem? Dem ungeborenen Ich, dem leeren, nur im Jetzt und Hier jeweils Entstehenden. Dem Ich der Mitte, das allein aus dem Nichts schöpfend, eigenschaftslos die Eigenschaft verwandelnd, geschichtslos in die Geschichte schöpferisch eingreifen kann.
Aus der Beziehung zum Nichts kann ich, dies universelle Ich, tatsächlich etwas bewirken. Sonst wirkt eben das Eine auf das Andere, wie der Zahnschmerz auf meine Stimmung.
Diesen Entsprechungen zufolge, die die verschiedenen Ebenen der Bewusstheit miteinander verbinden, ist es klar, dass, wenn ich Vorgänge in meiner Körperwelt ursprünglich erfahre und als Vorgang erfasse, dass sie mir Einblick in kosmische Zusammenhänge eröffnen, wobei ich mit kosmisch
Prinzipien meine, die auf allen Ebenen Gültigkeit haben. Solche Einblicke des einenden Ich sind verwandelnde Erfahrungen. Was nützen Visionen, wenn sie sich nicht im Leben verkörpern, und was taugt Körpererfahrung, wenn sie sich nicht über vertiefendes Verständnis im Geist fortpflanzt und in unendliche Wechselwirkung führt.
Es gehört zur Eigenart des denkenden Menschen, nach solchen Prinzipien Ausschau zu halten, einen Vorgang zu verworten, und von diesem auf andere Gebiete richtig oder unadäquat zu schließen. Nur das Denken kann die Vorgänge verschiedener Lebensgebiete erfassen, in Übereinstimmung bringen, zur Gestaltung, Wissensvermittlung, Regierung, Lebensführung koordinieren.
Das Denken kann aber auch Vorgänge erfassen, die in die einende Mitte führen, wo Denken aufgehoben im Nichts mündet, das alles gleichermaßen wirksam werden lässt: die Vier und die Drei, die Zwölf und die Acht — aus dem Ichbewusstsein der Mitte.
Das Wesentliche der Mitte der sich drehenden Scheibe ist, dass dieses Nichts, der ruhende Punkt, jenseits räumlicher Ausdehnung, im Winkel von 90°, den Zugang zu einer anderen, der nächsten Dimension eröffnet. Er ist die Himmelsleiter.
Im Sonnentanz der Indianer der dem Tanzenden die Ebene der Vision erschließt, über die er sein Diesseits mit dem Jenseits verbindet, ist ein Pfahl in der Mitte des Kreises, auf den sich jeder immer wieder zubewegt, abwendet, zubewegt, bis ihn die Vision ergreift.
Es geht immer wieder um den alten Witz: der Blau trifft den Grün in Gedanken vertieft und fragt ihn, Was klärst du?
Der Grün sagt, Ich klär, ob der Mensch lebt von innen heraus oder von außen herein.
Jetzt überlegt der Blau und sagt: Wenn du mich fragst, — ja.
Der Blau hat es erahnt. Wenn er es wirklich lebte, wäre er wohl ein Heiliger Weiser.
Nun, wir sind Sonnentänzer. Wir versuchen mit allen Mitteln der Körperlichkeit, der Mitte zuzutanzen; und wenn wir den Zustand des Pfeilers erreicht haben, der uns eine andere Dimension der Bewegung eröffnet, können wir diese Gewissheit hinaustragen — und die unsichtbare Spur, die uns mit der Mitte verbindet, mag uns auch im Geist immer gangbarer werden.