Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Mensch zwischen Himmel und Erde

I. Über den Körper in die Erfahrung der Ganzheit

Im Wachsen zu sein

Die Welt des Menschentiers besteht hauptsächlich aus in sich geschlossenen Interessenbereichen, wodurch Leiden entstehen, die irgendeine Art von Widerstand und Kampf erfordern. So sind die kriegerischen Künste des Ostens, die martial arts wie Judo, Taek Wan Do, Karate und andere von größtem Wert, um Spielarten der Konfrontation körperlich zu erleben, die zum Ausgleich führen. Während der Venusimpuls des Köperempfindens die Techniken der sanften Berührung, der langsamen Bewegung (auch Tai Chi gehört dazu) und der ruhigen Haltung wie im Yoga befruchtet, erfordern die Methoden des Körper-fühlens, des Mars einen blitzartigen Einsatz, der nur aus dem Bewegungszentrum, dem Hara erfolgen kann. Im Hara ist der Krieger Mitte seiner Verwirklichungskraft jenseits von Beleidigung, Hass und Frustration.

Im ernsten Spiel erwirbt er das Verständnis von Yin und Yang, dem gleichberechtigten Weichen und Vordringen in der Bewegung. Die Verteidigung, das Kennenlernen der Macht des Yin, steht im Vordergrund, wie es letztlich auch im Wort Wehrmacht zum Ausdruck kommt. Das Ableiten des Angriffs in kreisender Bewegung bringt den Aggressor in vielen Situationen bereits zu Fall.

Von praktischem Nutzen sind diese Techniken für Mitglieder der Polizei und vielleicht für Bewohner mancher Städte der USA. Für die meisten von uns liegt ihr Wert in der Übertragung auf alle Arten der Auseinandersetzung auch in seelischen und geistigen Bereichen über Wort und Schrift. Aus Angst vor der Konfrontation, aus Unverständnis der kosmischen Spielregeln kommt es zu Aggressionen, wie wir sie im Privatleben und im Parlament zur Genüge erleben. Das Spiel der Konfrontation ohne negative Emotionen, die Achtung des Gegners als Partner im großen Spiel, befreit die Güte des Menschen, läutert die Fühlkraft.

Widerstand und Kampf, auch den eigenen Komplexen gegenüber, sind nicht immer zu vermeiden. So setzt der Edle sein Leben daran, um seinem Willen zu folgen. Diese Situation, im Zeichen 47 des I Ging dargestellt, gehört zu den Realitäten des Daseins. Wenn der Wille der Meine ist, in Einklang mit dem Ganzen, so muss ich mich einsetzen, auch wenn es zum Kampf kommt; aber ohne Emotionen und Identifikation wie der Chirurg, der ein Geschwür entfernt. Der Erwachsene ist nicht nur Suchender sondern notwendig auch Überwinder und Krieger im indianischen Sinn, um ein Friedenshäuptling zu werden.

Der Mensch ist nicht nur tierhaft, er trägt in sich auch die Wesensart der Pflanze, des Minerals und des Feuers. Der Pflanze, die an ihrem Stand verweilt, sich aus ihrer Beziehung zu Mineral, Erde, Wasser, Luft und Licht entfaltet, die dauernd unmerklich verwandelt, gibt, heilt, auch ohne dass man sie pflückte oder sammelte. Sie ist in erster Linie Geschenk der Natur, Symbol des Schenkens, der Schönheit, der Betrachtung, der Fruchtbarkeit.

Grundbesitz sollte immer als Lehen der Erde verstanden werden. Für manche bedeutet er das Recht des Bauens oder Bergbaus. Im Grunde ist die pflanzbare Erde jene, die Ernte gibt, die das Leben ermöglicht. Ursprünglich ist es der Besitz der Ähre, der Rebe und der Kartoffel, des Ölbaumes, der die Menschen ansässig macht; Venus und Mond in ihrem Aspekt des Wachstums, der die Menschen veranlasst, die Ungreifbare, die Zeitrhythmen zu beachten.

Viele Samen haben sich ausgesät; Lärchen, ganz nah beieinander. Eine ist fünf Meter hoch gewachsen, stark und aufrecht; die anderen überleben im Unterholz, bis sie überwuchert verkümmern und wieder zu Erde werden. War der Same kräftiger? Hat sie eine nahrhafte Erde in der Steinritze gefunden, in der sich Feuchtigkeit erhält, in der die Wurzeln in die Tiefe durchstoßen? Dem Wachstum kann man Bedingungen schaffen; der Vorgang selbst lässt sich nicht beobachten. Vertrauen und Unschuld ist, was wir im dritten Chakra, dem Pflanzenchakra meditieren. Der Vorgang bleibt geheim. Es gilt die Kontinuität der förderlichen Umstände zu wahren, auf dass sich das Unmerkliche vollziehe.

Bei manchen Menschen ist das Pflanzenhafte vorwiegend. Ihre Güte, ihr Lebenswerk entsteht durch dauerndes dem Licht, der Kraft, sich selbst und den Mitmenschen gegenüber Offenbleiben; durch regelmäßiges Fortsetzen, und weniger durch bewusste Strategie des Tierhaften.
Der Tiergeist ist auch für die Indianer Lehrer und Helfer im Tun. Der Geist der Pflanze ist als Göttin schenkend und heilend, führt in das Grundvertrauen zurück: Im Wachsen zu sein, geborgen im Unendlichen, genährt und gehalten von den Kräften des All — in Beziehung zu sein.
Im Vertrauen in das unmerkliche Wachstum des inneren Wesens sind wir Kind der Großen Mutter.

In der Art, wie unsere Indianerfreunde uns lehrten, mit Bäumen zu reden, hat der Baum auch die Rolle einer Psychologin, der man klar und langsam deutlich die Probleme darstellt, die die eigene Entfaltung hindern, um sie wegzugeben — mit dem Vorzug, dass der Baum allbezogen ist, was nicht jeder Psychologin eignet.
Man nähert sich dem Baum wie einer liebevollen Schwester, berührt sie, um zu spüren, ob sie geneigt ist, in Verbindung zu treten. Vielleicht fragt man in Menschensprache: Darf ich mit dir reden? Dann geht man einmal in Richtung der Sonnenbahn (Uhrzeiger), der schenkenden Kraft um sie herum, um selbst ein Geschenk anzubieten; verstreut den Tabak einer Zigarette oder spuckt in die Runde, um sie mit befeuchtendem Speichel zu erfrischen. Auch einige Haare in die Rinde gesteckt, können die Gesinnung ausdrücken, zu geben, in Austausch zu kommen. Dann stellt man sich dicht an sie heran, berührend oder umarmend und beginnt langsam flüsternd das Gespräch — in etwa: Du bist in Einklang mit Himmel und Erde — du kannst alles, was in mir unharmonisch ist, verwandeln, verwerten…
Die Baumschwester kann tatsächlich nicht nur die körperliche Ausscheidung des Menschen, sondern auch den seelischen oder geistigen Unrat verwerten. Es genügt aber nicht zu sagen: Ich gebe dir alle meine Ängste!

Wilhelmine Keyserling
Mensch zwischen Himmel und Erde · 1985
I. Über den Körper in die Erfahrung der Ganzheit
© 1998- Schule des Rades
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