Schule des Rades
Arnold Keyserling
Der Wiener Denkstil
Einführung
Es gibt Städte mit einer ganz bestimmten geistigen Tradition, die jedem Menschen beim Nennen ihres Namens augenblicklich zu Bewusstsein kommt: so das Weimar Goethes, das Jena der Romantiker, oder das Berlin der Epoche Hegels. Dann gibt es aber wieder Städte, wo die eigentliche geistige Tradition vielleicht einigen Fremden bewusst ist, den Bewohnern jedoch und der näheren Umgebung verborgen bleibt und erst später im Laufe der Geschichte, in ihrer Bedeutung verstanden wird. So verhält es sich mit dem Stil des Wiener Denkens. Wenn heute jemand Wien nennt, dann tut er dies meist im Zusammenhang mit der Welt des Theaters, der Oper, der Musik; an zweiter Stelle denkt er vielleicht an die Entdeckung der Psychoanalyse, oder auch an die kritischen Leistungen von Karl Kraus und Hofmannsthal; aber die Bedeutung der Wiener Philosophie, die sich vor allem im sogenannten Wiener Kreis äußerte, ist nur den wenigen klar, die sich ausdrücklich mit diesem Gebiet beschäftigt haben. Und doch hat sich hier eine eigenständige Art des Philosophierens entwickelt, deren Wichtigkeit an die Durchschlagskraft der Entdeckungen Sigmund Freuds durchaus heranreicht, ja diese an Tiefe wohl noch übertreffen mag.
Dieses Wiener Denken kreist um drei komplementäre Begriffe: um die Bedeutung des Elements, der Struktur und des Spiels.
Dies ist nun eine ganz neue und eigenartige Trinität, die in dieser Form in der europäischen Geistesgeschichte noch nie vorher zur Grundfrage geworden war; sonst bewegte sich das Denken im Rahmen allgemein geläufiger Gegensatzpaare, wie Ding und Erscheinung, Idealismus und Materialismus, Notwendigkeit und Freiheit, Individuum und Gemeinschaft.
Doch in Wien wurde zum erstenmal eine ganz andere Problematik angegangen, die in folgender These gipfelt: alles philosophische Denken vollzieht sich zwischen den drei Polen des klar bestimmten Elements, einer festgefügten Struktur von Gesetzen und deren möglicher freier Kombination; so wie sich zum Beispiel alle materiellen Körper als Teil oder Verbindung der gleichen chemischen Elemente fassen lassen, und ihre Verknüpfung ganz bestimmten Gesetzen folgt; oder wie sich die Sprache aus den immer gleichen Buchstaben und Satzbausteinen (Elementen), nach gewissen Gesetzen (Struktur) zusammengefügt, zu freier Aussage (Spiel) aufbaut; oder wiederum die Musik auf der Abwandlung einer begrenzten Anzahl von Tönen zufolge den Gesetzen der Harmonik beruht; und wie sich schließlich selbst die individuelle Charakteristik einer menschlichen Persönlichkeit auf die besondere Kombination der Gene in den Chromosomen, also auf die besondere Verknüpfung der Bausteine der Erbanlage, zurückführen lässt.
Diese Gedanken bewegten nun in Wien eine ganze Reihe von Geistern, in deren Werk sich die drei Begriffswelten Element, Struktur, Spiel immer klarer und wesentlicher herausschälten. Wir wollen versuchen, der Gestaltwerdung dieser Problematik bei drei Philosophen nachzugehen: bei Ernst Mach, Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein, und anschließend die Folgen ihrer Entdeckung aufzuzeigen.