Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Wiener Denkstil

Ernst Mach

Die philosophische Leistung Ernst Mach’s ist heute in Vergessenheit geraten; das einzige, was ihm die deutschen Philosophiegeschichten noch zugestehen, ist die Begründung des sogenannten Positivismus; die englische logisch-positivistische Schule gesteht ihm nicht einmal das zu, weil sie ihr positivistisches Gedankengut aus rein englischen Quellen herleitet, und den späteren Wiener Kreis gleichsam als zufälligen kontinentalen Ableger der englischen Philosophie wertet.

Doch kommt in Mach’s Werk der Wiener Denkstil zum erstenmal zur Geltung, vor allem in seiner Hauptthese: die Welt sei so, wie sie uns erscheint; alle Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Idee und Materie sei willkürlich, beruhe auf falscher Formulierung. Gegeben seien aber nicht etwa Zusammenhänge, sondern nur die positiven Daten unserer äußeren und inneren Wahrnehmung. Sollte es gelingen, diese Daten in eine mathematische, also wissenschaftliche Ordnung zu bringen, so wäre damit alle philosophische Problematik endgültig gelöst. Ein philosophisches, persönliches System zu begründen, etwa im Sinne der Denkgebäude von Hegel und Marx, wäre dann sinn- und zwecklos, weil das philosophische Denken, auf seine Elemente zurückgeführt, zugleich mit diesen Elementen auch deren Form der Zusammenfügung offenbaren müsse; die richtig durchgeführte Analyse zeige jedwede mögliche Synthese.

Mach war weniger Philosoph als Naturforscher, ein genauer und gewissenhafter, ein genialer Beobachter, dessen Anspruch auf Philosophie aber deshalb berechtigt ist, weil er die ganze Wirklichkeit zu umfassen und zu erkennen trachtete. Dass nun zufolge seiner Lehre diese Wirklichkeit in ihren Elementen gegeben sei, deren mögliche Zusammenfügungen in ihnen selbst begründet liege — diese Erkenntnis hätte zu allen anderen Zeiten auch philosophisch umwälzend gewirkt. Doch kamen ein wenig später als Mach’s Werk die Entdeckungen der Physiker Planck und Einstein, die eindeutig beweisen konnten, dass die uns zugängliche Natur tatsächlich nicht, wie man im neunzehnten Jahrhundert noch glaubte, von ehernen Gesetzen bestimmt wird, sondern aus raumzeitlichen Elementen (den Atomen und Wirkungsquanten) besteht. Solche Elemente sind in ihrem Verhalten nicht im voraus zu berechnen; erst wenn sie in Gruppen auftreten, werden unsere Naturgesetze gültig.

Selbst der kausale Determinismus, bis dahin die unumstößliche Grundlage des wissenschaftlichen Denkens, erwies sich als nur eine der Bedingungen der Wirklichkeit; kommt man zu den Urelementen, so schwindet alle Möglichkeit der genauen Voraussage.

Für das wissenschaftliche Weltbild ergaben diese Entdeckungen die bekannte umwälzende Revolution; und Mach’s eigentliche Erkenntnis, die darin gipfelte, dass sowohl die äußeren als auch die inneren Wahrnehmungen echte Elemente der Wirklichkeit seien, verschwand im Trubel der Auseinandersetzungen aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die meisten Naturwissenschaftler waren der traditionellen Philosophie wegen deren zu hoch gespannten idealistischen Forderungen im neunzehnten Jahrhundert immer noch so gram, dass sie den möglichen philosophischen Konsequenzen von Machs Auffassung gleichgültig gegenüberstanden. Und die offiziellen akademischen Philosophen, die nun durch Planck und Einstein im Gegensatz zur ganzen wissenschaftlichen Denkungsart standen, lehnten um so mehr auch die Mach’sche Denkungsart als platten und primitiven Positivismus ab.

Für Mach hingegen gab es diese Problematik nicht: ihm blieb die Analyse unserer Empfindungen (also der unmittelbaren Wahrnehmungen der äußeren und inneren Wirklichkeit) der Schlüssel zur Wahrheit: er erschloss ihm die Elemente, die dann, zusammengefügt, die jeweilige Erfahrung und auch die jeweiligen individuellen Synthesen bis zur menschlichen Persönlichkeit erklären könnten. Alle sogenannten erkenntnistheoretischen Probleme wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Wahrnehmung und Grund der Wahrnehmung, waren für Mach nichts als Scheinprobleme. Richtig gebraucht, beobachtet und interpretiert (mathematisch durchdrungen) müssten uns unsere Empfindungen ein genaues Bild der Wirklichkeit geben.

Diesem Glauben an die Erkennbarkeit der Wirklichkeit ist das Wiener Denken treu geblieben. Doch in der Wahrung seiner Blickrichtung und der konsequenten Durchführung seines Ansatzes ließ Mach viele Probleme außer acht, die spätere Denker nachdrücklich und leidenschaftlich bewegten. Da war vor allem die Frage, wie man nun Erkenntnis und Irrtum auseinanderhalten und zu einer Struktur des Erkennens vorstoßen könne, mit der eine eindeutige Bestimmung der Wahrheit erreicht würde. Dies wurde nun das Anliegen des nächsten Denkers, des Hauptes des berühmten Wiener Kreises der zwanziger Jahre, Rudolf Carnap.

Arnold Keyserling
Der Wiener Denkstil · 1965
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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