Schule des Rades
Arnold Keyserling
Der Wiener Denkstil
Rudolf Carnap
Rudolf Carnap sah die Lösung aller philosophischen Problematik in einer Reinigung und Durchbildung unserer Sprache.
Der Ausgangspunkt von Carnap und Mach war der gleich: die Identität von Wesen und Erscheinung in den Urelementen (Bausteinen) der Wirklichkeit. Doch während sich Mach nur mit der Beschreibung und Feststellung dieser Elemente beschäftigte, suchte Carnap nach deren Struktur (gesetzmäßigen Zusammenfügung). Und diese Struktur offenbarte, so behauptete Carnap, ihren Wahrheitsgehalt nur in einer ihr gemäßen begrifflichen Ausdrucksweise, welche die Gesetze der Wirklichkeit bis in ihre letzten Schichten zu spiegeln vermochte.
Doch diese Terminologie — und hier kommt nun die wesentliche Behauptung Carnap’s — ist nicht nur ein Mittel zur Erkenntnis der Welt, sondern offenbart zugleich deren Bau, deren Konstitution, so dass die Gesetze der Welt sich vom Menschen als Gesetze der sprachlichen Logik untersuchen und eindeutig bestimmen lassen.
Derlei Gedanken haben schon Descartes (1596-1650) und Leibniz (1646-1716) gebildet, doch besteht zwischen diesen Philosophen und den Wienern Mach und Carnap ein sehr wesentlicher Unterschied. Jene Denker glaubten noch an die Einheitlichkeit des Raumes und der Zeit und an die ewige Gültigkeit der Naturgesetze. Carnap hingegen, treu dem Geiste Machs, suchte nach den letzten Elementen, aus denen sich alle Wirklichkeit aufbaut, und kam mit seinen Weltpunkten und Weltlinien zu einem einheitlichen, atomistischen Weltbild.
Die gewöhnliche Sprache ist für eine solche Erkenntnisart nicht geeignet, weil sie aus Geschichte und Zufall und aus dem Willen zur Verständigung entstanden ist. Carnap schuf denn auch in seiner Konstitutionstheorie eine Metasprache (eine der Umgangssprache übergeordnete Sprache): das Wesen der Wirklichkeit zeigt seine Gesetze in Aussagen, die den Charakter von Wahrheitsfunktionen gewinnen und um vieles exakter sind, als es bisherige logische Aussagen jemals sein konnten.
Die neue sprachliche Bewältigung der Wirklichkeit gleicht nun nach Carnaps Worten dem Lesen einer Landkarte: So wie man nacheinander die Eisenbahnlinien mit ihren Knotenpunkten, das Straßennetz oder die Bodenschätze studieren kann, so verlangt auch die Erkenntnis der Welt ein Fortschreiten in Stufen. Doch zum Unterschied der herkömmlichen Philosophie und Metaphysik (Lehre von den letzten geistigen Gründen und Zusammenhängen des Seins) lässt sich ein solches Bild vom wirklichen Zustand der Welt nur zu einem endgültigen Abschluss bringen mittels der logistischen Syntax (einer für den strengsten Ausdruck mathematisch-logischer Begriffe geschaffenen Lehre vom Satzbau). Sobald durch sie Welt und Sprache zur Deckung kommen, lassen sich echte und Scheinprobleme endgültig voneinander scheiden, lässt die Wahrheit sich ermitteln. Damit ist die Philosophie bei Carnap endlich echte Wissenschaft.
Carnap ist in seinen späteren Jahren, in Amerika, von seinem rigorosen Standpunkt, dass nämlich die meisten philosophischen oder metaphysischen Probleme nur Scheinprobleme und durch logistische Syntax zu lösen oder zu erledigen seien, abgegangen. Doch den Anspruch der Alleingültigkeit seiner Konstitutionslehre zur Unterscheidung von wahr und falsch, oder sinnvoll und sinnlos, behielt er bei. Im Unterschied zu Mach betrachtete er aber die Urelemente der Wirklichkeit nicht als Qualitäten, sondern nur als quantitativ (der Größe und Menge nach) beschreibbar und konzentrierte sich auf die im Wandel aller Dinge bleibenden Verhältnisse. Solche Verhältnisse verglich Carnap den Konstellationen am Sternenhimmel: wie das menschliche Auge im Raum unzusammenhängende Himmelskörper zu Strukturen (Sternbilder) zusammenfügt, von denen dann der Mensch bestimmte Aussagen macht, ebenso bedeute jede menschliche Fragestellung, ja jedwede wissenschaftliche Behauptung und jedes Lehrgebäude die bewusste Wahl eines solchen Sternbildes. In sich seien die Weltpunkte qualitätslos; nur in der Zusammenfügung erhalten sie einen Sinn; und ebenso erkläre sich die menschliche Verschiedenheit aus einer besonderen Wahl und Verknüpfung solcher Weltpunkte.
Die Carnap’sche Konstitutionslehre setzt, wie gesagt, das Erlernen einer besonderen Sprache, einer Metasprache und Metasyntax voraus, weil die natürlich gewachsenen Sprachen an Irrtümern kranken. Dennoch vermittelt auch die normale Sprache Erkenntnis und Verstehen, und dieser ihr Aspekt wurde nun zum Ausgangspunkt der Lehre des dritten Wiener Denkers: